2014 AUGUST

 

Ein einziger relativ kleiner Minke-Wal zeigt auf der Bootstour bei St. Andrews an der Bay of Fundy seinen Rücken mit der kleinen Rückenflosse. Keine Schwanzflosse zu sehen.

 

Beim Eintritt auf den Campingplatz bewundert der Campingwart mein Wohnmobil und fragt nach meinem Beruf. „Pfarrer“. Vehement und lautstark hakt er ein und sagt beschwörend: „Ich glaube gar nichts! Nach dem Tod ist alles aus, fertig!“ „Das genügt auch für dich!“, sage ich ruhig. Wir beide sind platt über unsere Äusserungen, bis wir darüber lachen.  

 

In Nowa Scotia, Prinz Edward Island und New Brunswick sind sehr viele Ortsnamen von Irland, Schottland, Grossbritannien, Deutschland und Frankreich von den Einwanderern hierher kopiert worden. Eine ziemlich einfallslose Namensgebung empfinde ich. Im Staate Quebec fahre ich nun dreihundert Kilometer dem Lorenzstrom entlang. Fast ausnahmslos sind es dutzende Namen von Heiligen als Ortsnamen. Ziemlich aufdringlich von der damaligen katholischen Kirche denke ich. Das führt zu lustigen Erweiterungen wie „Sankt Karl zur schönen Jagd“ oder „Saint Louis du Ha! Ha!“.

 

In der Stadt Quebec quirlt das Leben. Vor den unzähligen hübschen Restaurants und Pups mit Strassentischen stehen die Menschen Schlange, um einen Platz zu bekommen. Schlimmer traf es jene Gäste 1943, als in einer geheimen Aktion 849 Übernachtungen und zweitausend Reservationen im überdimensionalen Hotel Château Frontenac gestrichen wurden.  Roosevelt, Churchill und der kanadische Präsident King planten in diesem Schlosshotel die Landung der Alliierten in der Normandie. Das Schlosshotel präsentiert sich seit 1894 stolz über dem Hafen von Quebec gleich neben der Zitadelle. Aus Sicherheitsgründen wurden bei der erwähnten Konferenz die Präsidenten in der Zitadelle untergebracht.

 

Unterwegs halte ich Ausschau nach Methanol, um mit dem Efoy-Brennstoffzellengerät notfalls die Wohnraumbatterien laden zu können. Der Fachhändler hat keines an Lager, ich könne aber in jedem Bauhaus Methanol kaufen. Im Warengeschäft kann ich Methanol zwar kaufen, aber kein Gewinde passt auf meinen Anschluss. Dieses Reiseproblem zu lösen steht noch an. Vorläufig ist aber schönes Wetter in Ostkanada. So genügen die Solarzellen auf dem Dach. Eine Warnung vom Hersteller aus Deutschland kommt per e-mail gerade noch rechtzeitig: „Nur original verpacktes Efoy-Methanol verwenden. Alles andere erzeugt Schäden am Gerät!“ Ist nochmals gut gegangen! Nur muss ich jetzt weitersuchen nach dem Original-Efoy-Methanol.

 

Montreal im Staate Quebec. Mit Agglomerationen zählt die Stadt 4,7 Millionen Einwohner. Da lasse ich das Womo weit draussen stehen. Der Taxichauffeur ist unsicher, ob er St. Philippe de la Prairie finden wird. Er streckt mir ein Navigationsgerät zu. Ich tippe den Ort ein. Ok. Nach zehn Minuten ist der Akku leer. Zehn Mal kann ich das Navi trotzdem für Sekunden starten. Es reicht jeweils gerade, die nächste Abzweigung zu kriegen. Dann ist aber wirklich Schluss. Er reicht mir ein zweites Navi. Das gibt den Geist schon nach fünf Mal starten auf. Jetzt hilft nur noch Autos anhalten und fragen. Die ganze Übung verläuft gar nicht so schlecht. Wir finden das Womo wieder. Der Taxichauffeur, ein christlicher Araber, lacht vor Erleichterung laut auf. Für diese Story bekommt er von mir die Hand zum Abschied und ein Trinkgeld.

 

Nach dem Misserfolg mit dem Walfang möchte ich mir ein paar Tierbilder auf dem Kontinent sichern. Dazu besuche ich den Omega Park bei Montebello. Obwohl nur PWs im Park herumfahren, darf ich mit meinem Womo rein. Es bekommt fast so viel Aufmerksamkeit wie die wilden und die handzahmen Tiere.

 

Toronto ist eine fünfeinhalb Millionenstadt im Bezirk Ontario. Beim Rein-und Rausfahren auf der 401 liegen vierzehn Fahrspuren nebeneinander. Es gibt nirgends Stau. Ein verkehrstechnisches Wunderwerk. Ich fahre zügig bis mitten in die Stadt. Wie bin ich froh um mein Navi, das mich rechtzeitig von einer Bahn auf die andere lenkt. Die Skyline wird von Stadt zu Stadt gewaltiger.

 

Vom Erie See zum Ontario See fliessend stürzt das Wasser über die Niagarafälle. Ein wuchtig tosendes, schäumendes, benebelndes Schauspiel der Natur. Jahrein, jahraus ohne Wassernot. Das hat sich drum herum eine ganze Stadt zu Nutze gemacht und lockt die Schaulustigen in ihre kommerziellen Freizeitbuden und –hallen, Casinos und Superhotels. Alle Preise so hoch, wie die Wasserfälle. Fünfundzwanzig Meter der amerikanische, geradlinige und fünfzig Meter der kanadische, hufeisenförmige Wasserfall.

 

An der Georgian Bay bei Midland besuche ich die Jesuiten-Missionsstation „Saint-Marie among the Hurons“. 1639 von den Jesuiten gegründet. Hurons werden die Wenda-Indianer genannt. Sie liessen sich teils von den Jesuiten christianisieren. Teils waren sie skeptisch. Die Irokesen, ein weiteres Indianervolk dieser Gegend, griffen bereits neun Jahre nach der Gründung der Missionsstation das Dorf St. Josef an. Ein französischer Jesuitenpater kam ums Leben. Im Jahr danach zwei weitere. Bereits 1650 zogen sich die Jesuiten mit ihren Indianer-Christen nach Quebec zurück, wo die Jesuiten ihre Hauptstation betrieben.

 

Den Kaffeeliebhaberinnen will ich mal verraten: In Kanada gibt’s die Tim Hortens Kette fast an allen Strassenecken. Man fährt mit dem Auto zum Schalter und kriegt sofort den heissen Kaffee mit Deckel ins Auto geliefert! Keine Ausrede mehr nach Kanada zu fahren!

 

Highway 11. Nördlichste Ost-West-Verbindung im Bezirk Ontario. Hunderte von Kilometern über einfache Strassen. Geradeaus. Grosszügig abgeholzte Strassenränder. Die Hügel  und Senken bewaldet mit niedrigen Tannen und Birken, Gebüsch. Ein Fuchs, ein Kojote. Gefahrentafel: Elche bei Nacht! Ab und zu ein kleiner See. Wenige Dörfer. Mehr oder weniger auf zirka zweihundertfünfzig Höhenmetern. Meine Pferde galoppieren mit 90 km/h. Geradeaus. Holztransporter brummen auf mich zu. Hinter mir fahren keine Lastenzüge. Sie überholen mich alle. Weiter, immer geradeaus.

 

In Thunder Bay bin ich zurück in der Zivilisation. Kurz vor Thunder Bay hat Terry Fox seinen Marathon nach 5373 Kilometern aufgeben müssen. In Neu Fundland ist er quer durch Kanada gestartet, mit einem gesunden Bein und einer Beinprothese, um Geld für die Krebshilfe zu sammeln. Mit 18 Jahren wurde sein rechtes Bein amputiert. Knochenkrebs. Nach der Amputation startete er diesen Marathon of Hope. Mit 21 Jahren ist er 1981 verstorben. Der Junge bewegt die Kanadier und auch mich.

 

Unter den dreissig Meter hohen Kakabeka Falls schäumt das Wasser in der Tiefe.

 

Bei einem so lauten Knall drücke ich beide Augen so heftig zu, dass mir die Nase in Falten gelegt und die Schultern bis zu den Ohren hochgezogen werden. Als ich die Augen öffne, leuchtet auf meiner Frontscheibe eine Blüte, so gross wie ein Seerosenblatt. Ein von der Gegenrichtung daher dröhnender, LKW überholender LKW hat auf der dreispurigen Bahn einen Stein gegen meine Frontscheibe geschleudert. Das wird eine Geschichte werden. Vorläufig kann ich nichts unternehmen. Wie auch. Es gibt kein Internet und keinen Telefonempfang. Mein Tagesziel liegt noch fünfhundertzwanzig Kilometer westwärts. Wenn der Rest des Sicherheitsglases hält, schaffe ich das prima. Die Natur entschädigt alles. Die Gegend ist wunderschön mit Wäldern und Seen übersät. Die Strasse wippt und wellt immer zwischen vierhundert und fünfhundert Höhenmetern. Die Schönheit der Natur beflügelt mich sofort wieder beim Fahren, so dass ich voller Begeisterung ausrufe: soooooou schöööön!

 

Fünfzig Kilometer vor Winnipeg, der Hauptstadt der Provinz Manitoba, ändert sich die Landschaft total. Die Hügel, Wälder und Seen werden abgelöst durch unendliche Weiten. Mit drei kleinen Richtungskorrekturen geht es über fünfzig Kilometer durch Korn- und Gemüsefelder geradewegs auf Winnipeg zu. Nicht die kleinste Erhebung soweit ich sehen kann. Kein Maulwurf wirft hier einen Hügel. Die Abermillionen von Sonnenblumen recken ihre Köpfe der Sonne entgegen. Die fühlt sich geschmeichelt und scheint jeden Tag. Ihr zum Dank will ich erwähnen, dass ich seit Mitte Juni mit vier Ausnahmen nur Sonnentage erlebe.

 

Von der Millionenstadt Winnipeg kann ich praktisch nichts sehen, obwohl ich mitten drin bin. So flach liegt sie da, der flachen Umgebung angepasst wie der höchste Berg auf einer Leinwand.

 

Meinen Baedeker-Reiseführer Kanada Ost stelle ich mitsamt der Strassenkarte in das  Regal. 7436 Kilometer hat mein Womo von Halifax bis Winnipeg bewältigt.  Ab jetzt dient mir Baedeker-Kanada West.

 

Mich zieht es nach Norden. Wieder diese fruchtbaren Weiten! Amazing. In St. Laurent am LakeManitoba mache ich vor einem Rec Center halt. Was ist das, will ich wissen? Ein Gemeindehaus. Komm rein. Es ist grad staatlicher Seniorennachmittag mit Tombola, Spielen, Musik und Essen. Der Pfarrer kommt auch dazu und stellt mich der ganzen Versammlung vor. Gespräche und Einladungen folgen. Tags darauf habe ich Geburtstag. Werner, der mit neunzehn Jahren aus der Steiermark ausgewandert ist und in Canada Paula von Nova Scotia vor sechsundfünfzig Jahren geheiratet hat, besuche ich auf seinem Bauernhof. Zwei Söhne besitzen nebenan ebenfalls Farmen und bewirtschaften die vielen Hektaren der betagten Eltern mit. An einem einzigen Tag rollen sie 136 Ballen Heu für ihr Vieh. Der zwölfjährige Eric arbeitet wie ein Erwachsener auf dem Traktor und legt ebenfalls sechs Stunden hin. Am Abend spüre ich keine Müdigkeit bei den Jungs. Paula hat ein Festessen zubereitet und dazu noch den Ortspfarrer, Father Michel, eingeladen. So aufmerksam. Wasser tanken bei Werner! Bei Earl darf ich mich am zweiten Abend in St. Laurent auf seinem Hof hinstellen und kriege dazu noch WiFi, um die Geburtstags-e-mails zu beantworten… und viele Dienste mehr. Sooooou schöööön!

 

Übrigens, wer in St. Laurent kein Internet hat, darf jeden Tag ins Rec Center kommen. Hier stehen zwei PCs zur Verfügung. Sowas suche ich in St. Gallen!

 

Thompson erreiche ich nach siebenhundert Kilometern auf der flachen Landbrücke zwischen den Manitobaseen und dem Lake Winnipeg auf dem gut ausgebauten, fast autofreien Hwy 6. Thompson scheint ein Problem mit den First Nation Menschen zu  haben. Es gibt sehr viele Arbeitslose hier. Die Disziplin in der Stadt hat augenscheinlich nachgelassen. Die Regale in den Läden sind weniger üppig gefüllt. Von Thompson nördlicher geht’s in Manitoba nur noch in 20 Stunden mit dem Zug nach Churchill an der Hudson Bay oder im Propellerflugzeug in einer Stunde. Ich ziehe das Flugzeug vor. Das Womo kann ich auf dem Flughafen in Thompson stehen lassen und sogar bequem darin die Nacht vor dem frühen Abflug verbringen. Mich kribbelt es vor Glück, dass ich diesen Trip von Dienstag früh bis Freitag spät machen kann!

 

In Churchill sind nicht gleich alle 813 EinwohnerInnen zu sehen, auch die Beluga Wale nicht und nicht die Eisbären. Es soll seit langer Zeit eine Schlechtwetterwoche sein. Im Regen trotte ich durch die menschenleeren Strassen. Tags darauf ist alles vergessen. Der Himmel klart auf. Per Schlauchboot fahre ich auf die Hudson Bay raus. Die Hudson Bay hat nur im Nordosten und im Norden eine Verbindung zum Atlantischen Ozean. Kaum gestartet, freuen sich die Belugawale das Boot zu begleiten. Es sollen tausende dieser drei bis fünf Meter langen, weissen Wale hier sich tummeln.  Lustig zu erraten, wo die Nahesten um das Boot herum auftauchen. Klick, erwischt;  klick, nicht erwischt. Es sind so friedliche, spielerische Tiere. Einige Touristen schnorcheln in Neoprenanzügen mit Körperkontakt zu den Tieren. Das hat den Vorteil, die Gesichter und Schwänze der Clowns unter Wasser zu sehen. Beides zeigen sie über Wasser ganz selten. Andere Touris paddeln mit den Belugas um die Wette. An den Klippen wandert ein Eisbär mit seinem etwa zweijährigen Jungtier. Das Kleine nimmt ein Bad. Eine Wunderwelt. Soooou schööön!  

 

Mit einem riesigen Tundra Buggy versuche ich mit anderen Touristen auf einem sechsstündigen Ausritt Eisbären in der Tundra zu entdecken. Freunden habe ich geschrieben, ich möchte in Churchill eine Eisbärin küssen. Das ist gar nicht so schwer. Vier Tiere bekommen wir zu Gesicht und fahren sogar dicht an sie ran. Nachdem uns ein Bär Zeit zum Lunch im Buggy, „im Buggy“ versteht sich, gelassen hat, erhebt er sich, trottet auf das Fahrzeug zu, küsst das eine Rad und richtet sich dann an der Karosserie hoch. Und das in der Tundra! Soooou schööön! Als wir uns weiterbewegen seckelt ein Bär in etwa fünfhundert Meter Entfernung davon. Er  muss den überlegenen Bären gewittert haben und nimmt Reissaus. Fantastisches Schauspiel wie er über Stock und Stein und Büsche hüpft. Im Herbst sollen es mehrere hundert Tiere sein, die auf der Westseite der Hudson Bay herunterwandern. Sie lagern alle in der Gegend um Churchill. Man nennt sie deshalb die Welthauptstadt der Bären und Belugas. Die Bären warten hier auf das Zufrieren der Hudson Bay und wandern dann über das Eis ans Ostufer zur fetten Robbenjagd für die Winterschlafenszeit. Von den imposanten Tieren hörst du keinen Laut. Als seien sie sich ihrer Würde und Überlegenheit in der hiesigen Tierwelt bewusst, ziehen sie schweigend dahin. Selbst die Jungtiere lernen schweigend durch Beobachten der Mütter.

 

Die grossen, menschenähnlichen Steinzeichen von den Inuit in der Tundra als Wegmarke und spirituelles Zeichen aufgerichtet, manchmal mit Durchblick zur nächsten Steinformation, werden Inukshuk genannt.  

 

 Um Churchill herum stehen Warnschilder, dieses überwachte Gebiet nicht zu verlassen. Trotzdem wage ich es am hellen heiteren Tag doch etwas über die herrlich zerklüfteten Klippen hinweg. Die Warnschilder scheinen meist etwas alt und vielleicht nicht sehr zutreffend zu sein. Es sind nur ein paar Schritte vom Spital, Gemeindezentrum und Kindergarten zur Beach, an der es Sitzbänke und Feuerstellen gibt. Tags darauf sehe ich Spuren im Sand. Ein Bär hat nachts die Schilder übersehen und ist auf meinem Pfad entlang gelaufen. Durfte er doch. Die Schilder sind für die Touristen da, die sich offenbar an Nichts halten. Glaub mir, ich bin danach etwas vorsichtiger geworden.

 

Auf dem Flughafen in Churchill verbringe ich viel Zeit vor dem Abflug. Die Fluggesellschaft heisst Calm Air und so ist es auch: ruhig, calm! Die Damen am Check-in sind stundenlang unterbeschäftigt. Als eine Dame nebenan im Gespräch Switzerland hört, fragt sie: Bist du der Schweizer mit dem Wohnmobil in Thompson? Meine Freundinnen haben mir erzählt, dass sie dich und dein Womo dort gesehen und bewundert haben. So klein ist die Welt, sagt sie. Und so aufregend das Vehikel. Wir sind in Churchill 415 Kilometer von Thomson entfernt. 

 

Die Pisew-Fälle (13m hoch) sorgen für eine wuchtige Abwechslung auf den geraden, ebenen Wald- und Seenstrassen zwischen Thompson und Ponton. Von Ponton aus fahre ich westwärts nach Flin Flon, einer Bergwerkstadt im Norden von Mantitoba, dicht an der Grenze zum Bundesstaat Saskatchewan. Die Strasse von Prince Albert nach Flin Flon wurde erst 1956 offiziell eröffnet. Von 1947 bis 1957 hat sich die Einwohnerzahl in Flin Flon Dank Erz, Zinn und Gold von 500 auf 30‘000 erhöht!

 

In die Urkaine und aus der Ukraine sind schon viele Menschen geflüchtet. Es gibt in Kanada viele ukrainisch-orthodoxe, mennonitische und andere Gemeinden wie in Prince Albert. Diese Stadt ist ein Glücksfall für mich: Ich bekomme vom Fachhändler eine Rolle durchsichtiges Klebeband für meine kaputte Windschutzscheibe geschenkt; Propangas bei Co-op für die beiden leeren Tanks; einen Sehtest vom Optiker, um meinen Führerschein C1 behalten zu können.

 

Ende August bike ich im Prince Albert Nationalpark am Waskesiu Lake umher. Erdhörnchen, Eichhörnchen, Wiesel, Füchse, Rehe, Hirsche, Elche, Gänse sehe ich täglich. Obwohl ich eine Broschüre im Sack habe „Wie verhalte ich mich, wenn der Schwarzbär als Verteidiger; wie, wenn er als Räuber auftritt?“ kann ich dieses Wissen nicht anwenden. Es zeigt sich keiner.  Wenn der Bär Futter oder ein Junges verteidigt, soll ich ihm beruhigend zureden, auch wenn er auf die Hinterbeine steht und mich von oben herab anschaut, dann solle ich mich langsam zurückziehen. Wenn er als Räuber Lust hat mich anzugreifen, soll ich zurückschlagen. Jedenfalls nicht wegrennen. Der Bär wird schneller sein. Meine erste Frage an den Schwarzbären wird also sein: Spielst du Verteidiger oder Räuber? Nach seiner Antwort weiss ich, wie ich mich verhalten soll. Sooooou beruhig-end-end-end-end.

 

2014 SEPTEMBER

 

Prince Albert - Saskatoon - Edmonton Hunderte von Kilometern schwebe ich über die Ebenen von Saskatchewan. Langweilig? Nein, ich bin berührt, bewegt, über diese fruchtbaren Weiten von Mutter Erde zu gleiten. Lockere Wolkenkissen am Himmel. Sie verraten, wie sich die Flächen hinter dem Horizont noch unendlich weiter ausdehnen. In keiner Himmelsrichtung ist meine Sicht beschränkt, ausser durch den Horizont.    

 

In Morinville, 30km nördlich von Edmonton kriege endlich Methanol für mein Brennstoffzellengerät, damit lassen sich die Wohnbatterien laden, auch wenn die Solarzellen auf dem Dach wegen des Wetters nichts mehr hergeben.

 

In Prince Albert folge ich der Aufforderung des Schweizerischen Verkehrsamtes einen Augencheck durchzuführen. Wenn okay, kann ich den Führerschein C1 behalten. Die Optikerin schreckt mich, ich solle zu einem Augenarzt gehen. Möglicherweise bilde sich ein grüner Star (Glaukoma) heran. O Schreck! In Edmonton suche ich Tage später einen weiteren Optiker und dann einen Augenarzt auf. Der gibt Entwarnung. Alles im grünen Bereich! Unpassender Begriff, wenn man vom grünen Star spricht! Worüber ich sehr erstaunt bin? Bei den Optikern sowohl in Prince Albert, wie auch in Edmonton und beim Augenarzt werde ich unverzüglich in alle Apparate eingespannt und gründlich untersucht. Ohne Voranmeldung! Dabei habe ich zur Not schon Pläne geschmiedet, was und wo ich bis zu den möglichen Behandlungsterminen alles machen kann.

 

Im Elk Island National Park  bei Edmonton entdecke ich Bisons. Ihr grimmiger Blick ist kein Willkommgruss!

 

Einhundert Kilometer vor Jasper sichte ich die Rocky Mountain. Die ersten Gebirge nach zehntausend Kilometern meiner zweimonatigen Fahrt.

 

Bei Pocalhontas an der Hwy 16 zweige ich unvermittelt in ein Seitental der Rocky Mountain ab. Siebzehn Kilometer im Taleinschnitt reizt mich die Warmwasserquelle Miette Hot Springs zum Bad. Auf der Rückfahrt aus diesem engen Tal sichte ich den ersten Schwarzbären in freier Wildbahn.

 

Glattfelsige, baumbehaarte, buckelige, schroffe, schneebedeckte Bergmassive spiegeln sich in verschieden farbigen Seen.

 

Jasper im gleichnamigen National Park wirkt wie ein Kurort. Aussenrum hüten Elks ihre Damen. Vorsicht. Nicht dazwischentreten! Elks werden in Kanada die imposanten Hirsche genannt. Was wir in Norwegen Elche nennen, sind hier Moose.

 

Heute habe ich mich zum Waschbären gemacht. In der Loundry von Jasper stehen mir etliche Automaten zur Verfügung. Danach gönne ich mir einen Abendausflug in ein Seitental (50km) zum Maligne Lake. Auf der Hinfahrt begegnet mir ein Schwarzbär mit zwei Jungen. Auf der  Brücke beim Seeauslauf warte ich den Sonnenuntergang ab. Mal wechsle ich dahin und mal dorthin, um einen schönen Ausschnitt für das Foto zu testen, mal schaue ich den Fischen beim Mückenspringen zu. Kaum setze ich mich ins Womo, schleicht ein Pubertierender unhörbar scheu neben meinem Womo auf die andere Bachseite. Wie lange der mich aus dem Wald heraus beobachtet hat? Man weiss nie! Jedenfalls finde ich die Begegnungen mit den Bären soooou schööön!

 

Ich tanke am Vormittag in Jasper. Fahre Richtung Banff, 37 Kilometer bis zu den Athabasca Falls. Diesmal ist es nicht der Wasserschlauch. Diesmal ist es die Dieselzufuhrröhre vom Filter zum Motor. Sofort bildet sich eine beachtliche Lache gefiltertes Diesel am Boden. Ein Kanadier hilft mir mit Klebeband abdichten. Geht nicht (weil Öl, lacht später ein Garagist). Ich fahre zurück nach Jasper und finde vor dem Mittagessen eine Werkstatt. Der Werkhof steht voller Autos mit offenen Motorhauben und anderem Zeug. Die kümmern sich aber sofort um meinen Fall, bauen die defekte Röhre aus und fragen dann, ob sie zuerst Mittagessen gehen dürfen!!! Ich glaube es nicht: Die Röhre ist an einer anderen Röhre angelegen und nach 86000 Kilometern durchgefickt. So eine Sauerei von IVECO!!! Zwanzig Minuten Lunch. Dann kommt der erste Monteur zurück, ein zweiter folgt. Miteinander fahren sie mit meinem Röhrenstück weg, um das defekte Teil herauszuschneiden und eine Koppelung anzubringen. Wiedereinbau. Der Motor läuft ohne zu Sabbern!!!

 

Noch eine gute Nachricht: Carthago meldet am 1. September, die neue Frontscheibe werde in zirka vier Wochen in Vancouver eintreffen. Die schlechte Nachricht: den Ersatz habe ich mit allem Drum und Dran selber zu bezahlen, weil der Schaden ausserhalb der Versicherungszone der „grünen Karte“ passiert ist.

 

Zurück von Jasper Richtung Banff. Der Icefields Parkway führt nach den Athabasca Falls an den Sunwapta Falls vorbei, wo das Wasser sich stürzend zerschlägt und durch eine enge Schlucht das Weite sucht. Die Strasse steigt stetig von eintausend auf zweitausend Höhenmeter. Nach gestreckten Pässen führt sie wieder bequem in der Talsohle von schrofffelsigen und teils vergletscherten Bergen begleitet.   Die Waldgrenze der starken Tannen reicht über zweitausend Höhenmeter. Schon vor der Passhöhe hängen mächtige Gletscherabbrüche von den Dreitausendern: Snow Dom, Mt Andromeda, Mt Athabasca. Vor dieser Gletscherszenerie will ich verweilen. Auf der Wanderung zum Wil Cok begegne ich den Bighorn Schafen. Sie liegen träge auf der kargen Weide. Mit erhobenem Haupt weihen sie ihre mächtig gerundeten Hörner der Morgensonne. Die Colombia ground squirell purzeln aus ihren Erdhöhlen und putzen sich im wärmenden Licht. Soooou schööön!

 

Zum Peyto See runter und in die Schlucht wandere ich bei Sonnenschein. Tags darauf, dem 8. September, dem Bow See entlang und in die Schlucht zu den Bow Glacier Falls. Den Rückweg im Schneefall. Ich bin hier immerhin auf 1800 Metern. Am Lake Louis bleibe ich mal drei Tage, um die Wetterentwicklung abzuwarten. Weihnachtliche Stimmung im September. Anmutig und bedrohlich.   Drei Tage später klart der Himmel wieder auf. Auf nach Westen.

 

Die dreizehn Kilometer im schattigen Tal bei drei Grad Celsius bergauf zu den 254m hohen Takakkaw Falls im Yoho NP schaffe ich mit dem Mountainbike. Darauf bin ich überwindungsmässig und kniebezogen stolz.

 

Wieder zieht es mich abseits des grossen Durchgangs von Halifax nach Vancouver. Ich trifte südlich nach Nelson, einer Stadt mit etlichen ausgebüxten Künstlern und kuriosen Gestalten. Auf dem Weg dahin, gibt es ärmliche Kleinbauernhöfe. Die Väter haben als Selbstversorger ein paar Quadratmeter Nadelbaumwald gerodet. Ihre altertümlichen Maschinen, Werkzeuge und Autos rosten verstreut um ihre improvisierten Hütten herum und bedecken das spärliche Weideland.

 

Der kanadisch-amerikanischenGrenze entlang knabbern ein paar Ziegen am dürren, fast ziegenhohen Steppengras. Russische Ideologen, die zu jener Zeit im pazifistischen Geist Tolstojs lebten, wurden aus Russland vertrieben. Sie versuchten hier in Kanada ihre Dörfer zu gründen. Man hat diesen Aussenseitern Kredite verweigert und sie auch hier ausgehungert. Stefan Zweig erwähnt diese Doukhobor im Zusammenhang mit Tolstoj in seinem Buch „Sternstunden der Menschheit“, (erstmals publiziert 1927) das ich gerade in dieser Gegend mit Spannung lese. Heute gibt es das historisierende Doukhobor Village: Schaut einmal, wie die gelebt haben und bringt uns heute das Geld, das wir ihnen damals verweigert haben! Eine geschichtliche Frechheit, wie mir scheint.

 

Das Land öffnet sich nach den steppengrasbraunen Hängen zur fruchtbaren Obst- und Weingegend im Okanagan Valley und nördlich bis Kelowna.

 

Die Rockys zu durchqueren hat`s in sich. Immer wieder führen Pässe bis über tausendsiebenhundert Meter. Mein Womo nimmt`s dabei gemütlicher wie die schweren Lastwagen. Hundert Kilometer vor Vancouver öffnet sich das Tal zu einer weiten Ebene. Da vorn liegt Vancouver. Am 4. Juli bin ich in Halifax (Nova Scotia) mit dem Thunder Storm Arthur gestartet. Am  15. September fahre ich bei 31° C in Vancouver ein. Dazwischen lag etwas Schnee, etwa fünf Mal Regen und alles andere heller Sonnenschein! Vom Atlantischen Ozean habe ich den Pazifischen Ozean nach 12`683 Kilometern auf Um- und Abwegen erreicht. Fühlst du, wie glücklich ich darüber bin? Soooou schöööön!

 

Vancouver erscheint mir vom Stanley Park her gesehen darum schön, weil es eine lange, fast ebenbildliche Skyline gibt. Fast sorgsam aufgebaut. Keine allzu auffallende Andersartigkeit. Gediegen. Sauber. Das Innere der Stadt sieht vom HarbourLookoutTurm und in manchen Strassen wieder wirr wuchernd  aus. Mit dem Bike entdecke ich aber viele wohnliche, ruhige Quartiere. 600`000 leben im Kern; 1,7 Millionen in Vororten. Die seit hundert Jahren gesammelten Totem -Pfähle im Stanley Park beeindrucken mich durch ihre ursprüngliche Aussagekraft indianischer Kunst. Im Stanley Park und bei der Suspension Brigde stimmen mich die mächtigen Douglas Tannen im Regenwald nachdenklich. Hoch in den Bäumen verhängt gibt es bei der Suspension  Hänge-Brücke einen Rundgang auf gesicherten Stegen. Er soll dazu dienen, den Menschen einen Eindruck der Mächtigkeit des Regenwaldes aus der Eulenperspektive zu geben. Doch wird er vielmehr als Belustigung  und Test der eigenen Höhenangst begangen, denn als meditativer  Höhenpfad.

 

Leo Wenk, Charlies Bruder, führt  mich in den nächsten Tagen von Harrison Hot Springs aus an wunderbare Orte. An der engsten Stelle im Fraser Canyon sind Fischtreppen eingebaut, damit die Lachse die Schnellen zu ihren Geburtsbächen im Gebirge leichter überwinden. Durch eine Sprengung für den Pazifik Railway hat man ihnen diesen Weg künstlich verengt und danach wieder ausgebaut.

 

Bei der Adams Lake Bridge sehe ich die ersten knallroten Lachse auf ihrem Heimweg auftauchen. Sie haben zwei Jahre lang im Meer verbracht und schwimmen und hüpfen nun zurück zu ihrem Geburtsort, um die nächste Generation ins Leben zu rufen und selber dort zu sterben.

 

Die Wasserfälle Spahats (73m hoch), Dawson (107m breit)und Helmcken (141m hoch) im Wells GrayProvincial Park sind in dieser Reihenfolge eine echte Steigerung im Erlebnis. Die Fälle stürzen im vulkanischen Gebiet über Basalt und Lavagestein ab.

 

Die Wanderung über der  Stadt Kamloops gibt den Blick frei über die braunen „Steppenhänge“ entlang dem nördlichen und südlichen Thompsonfluss  bis ins weite Hinterland.   

 

Nach eintausend Kilometern holen wir Emee, die Ehefrau von Leo, in Harrison Hot Springs ab und fahren erneut für vier Tage ins Freie. Lytton und Lillooet streiten um den heissesten Platz in British Colombia. Jedenfalls kann es in diesem schmalen Tal im Sommer bis zu vierzig Grad heiss werden.

 

Durch die NairnFalls bei Pemperton windet sich das Wasser in engen Spalten, zwängt sich unter einer Naturbrücke durch, bildet Steinmühlen und Badewannen im Fels, bis es wieder frei davonrauscht.  

 

Wistler ist ein hübscher für die Olympiade 2010 geschaffener Wintersportort. Im Sommer jumpen verwegene Kreaturen mit ihren bikes downhill.

Brandywine Falls und Shannon Falls lassen wir auf keinen Fall ausfallen. In den Shannon Falls entdecken wir im Fels gleich drei Gesichter. So erheiternd ist dauerhaft unser Wetter. Der Highway runter nach Vancouver führt bald einmal dem Meer entlang. Wunderschön in der Abendstimmung. Vor dem Ausbau des Highways zur Olympiade wurder er wegen der vielen Autounfälle "der Weg zur Hölle" genannt, danach "der Weg zwischen Meer und dem Himmel".

Auch British Colombia ist soooou schööö!

 

Fischotter
Fischotter

 

2014 Oktober  

In Vancouver bewege ich mich schon als kundiger Reiseleiter. Michael und Ralf sind mit einer Stunde Verspätung aus Nürnberg angekommen. Ein Tankwagen hatte den Flügel ihres Flugzeuges touchiert. Nach der Flicke sind sie geflogen! Von Horseshoue Bay setzen wir mit der Fähre nach Nanaimo auf Vancouver Island.

 

Die Qualicum Falls rauschen in kleinen Schluchten herunter. Ein Otter nutzt eilig die ruhigeren Wannen.

 

Catheadrel Grove nennt sich ein Regenwaldpark. Die Douglas Tannen sind mächtig. Eine präsentiert sich mit 9m Umfang und  76m Höhe um zehn Meter höher als der Turm von Pisa. 

 

Obwohl man eine Wasserrutsche für sie gebaut hat, üben sich Lachse im Wasserfallspringen an den Stamp Falls bei Port Alberni. Auf der uns gegenüber liegenden Bachseite wartet ein Schwarzbär auf sie. Unsere Beachtung schätzt er nicht. Er balanciert über gefallene Baumstämme zurück ins Unterholz.

 

Im Aquarium von Ucluelet verweile ich vor allem vor den kleinen, durchsichtigen, pulsierenden, zarten Quallen. Was für ein Erfindergeist belebt das Meer! Aus scheinbar versteinerten, leblosen Muscheln häkeln feinste Fäden die Nahrung aus dem Wasser. Sooou schööön!

 

In Victoria regnet es nicht mehr wie in den vergangenen Stunden.In dicke Rettungsanzüge verpackt setzen wir auf einem Gummiboot den Walen nach. Zwei fünfzehn Meter lange Wale tauchen auf und ab. Ein kribbeliges Schauspiel. Seehunde liegen vereinzelt auf einer Leuchtturminsel. Die Seelöwen dagegen streiten eng aneinandergedrängt, liebkosen sich oder dösen. Stinken tun sie standesgemäss fürchterlich. Männliche Kolosse ziehen mitunter neunhundert Kilogramm über den Fels.  

 

Eine Fähre bringt uns in 135 Minuten (in gleicher Zeit wie die Nordpassage: Horseshoe Bay-Nanaimo) von Swartz Bay zwischen vielen hübschen Inseln hindurch nach Tsawwassen bei Vancouver aufs Festland.

 

Bei Kamloops fliessen der nördliche und der südliche Thompson River ineinander und vereint bei Lytton in den Fraser River.  

 

Alle vier Jahre schwimmen und jumpen im Oktober Millionen Lachse den Adamsriver hoch. 2014 ist so ein Jahr. In den zwischenliegenden Jahren sind es Hunderttausende. Es ist jetzt der 15.Oktober. Mir bleibt der Atem stocken. Im ruhig fliessenden, klaren Wasser  bei Squilax warten die Lachse über den ganzen Adamsriver hinweg gleichmässig verteilt. Grüne Köpfe, rote Körper. Es sind Chinook. An dunklen Stellen warten sie dicht gedrängt gegen den Strom verweilend. Helle Stellen im Wasser meiden sie, um nicht noch besser entdeckt zu werden. Einige haben ihr Ziel und den Zweck dieser mühsamen Reise vom Meer herauf überstanden. Sie liegen tot im Wasser. Das Weibchen hat vorher ihre viertausend Eier ausgepresst und das Männchen hat sie mit einer Wolke von Spermien befruchtet. Die jungen Lachse werden im Frühjahr übermütig zum Meer runter schwimmen. Sie werden sich den Weg gut einprägen, um ihn auf ihrer Rück- und Sterbensreise in drei Jahren wieder zu finden.  Sooou interessant und soooou schöööön!

 

Die imposanten Spahat-, Dawson- und Helmcken Falls im Clearwater Valley bringen mehr Wasser zum Stürzen wie zwei Wochen zuvor. Bei den Helmcken Falls verbringen wir die Nacht auf dem menschenleeren Parkplatz. Die Stützen am Womo fahren nicht aus. Störung!  Die Nacht hindurch spüren wir  jede brüske Bewegung von uns Dreien. Die Helmcken Falls wollen wir im Morgenlicht nochmals sehen. Am Morgen ist die Schlucht gefüllt mit dichtem Nebel. Die Fälle sind verdeckt. Wir sehen sie nicht, wir hören ihr Rauschen.  

 

Los nach Jasper! Nach zwei Metern ramme ich durch zu frühes Abdrehen seitlich einen Bordstein und schramme brutal einen Pneu an der Hinterachse. Die Luft ist weg. O waia. Wie peinlich für mich! Wie ärgerlich für die Gäste! Wie flicken mit meinem kleinen Wagenheber und drei Tonnen auf der Achse? Der Wagenheber taugt gerade mal, eine Kaffeetasse anzuheben. Mit der Hydraulik das Womo heben und Radwechsel machen ist vom Hersteller verboten. Ich würde es trotzdem wagen, aber die hydraulischen Stützen fahren ohnehin nicht aus. Was nun? Wir sind 42 Kilometer von Clearwater entfernt im Outback. Der Parkplatz ist menschenleer. Eine Handy-Verbindung gibt es nicht. Ralf verlangt einen Hammer. Damit schlägt er ein paar Mal gegen den Hydraulikkasten. O  Wunder. Die Stützen fahren aus. Wir setzen zusätzlich die Metallklötze von Marco unter die Stützen, um das Womo möglichst hoch und sicher (?) anzuheben. Das funktioniert. Das Reserverad runter! Das ist schneller gedacht als getan. Die Schraubenmutter sitzt nach drei Jahren Ruhe dermassen im Rost fest, dass wir es zu Dritt unter dem Womo kauernd und liegend über lange Zeit jeweils gerade mal schaffen, die Mutter um eine Viertel Umdrehung zu lösen. Dann wieder und wieder neu ansetzen. Nach zwei Stunden ist das Unmögliche geschafft. Das Reserverad klammert sich am Zwillingsrad fest, das aufgeschlitzte Rad klemmt unter dem Womo! Fachleute wollen das zum Vornherein nicht für möglich halten.

 

Meine Gäste sind dermassen geduldig, einfühlsam und nehmen den Vorfall gelassen hin. Sie erleichtern mir das Leben mit einem verständnisvollen Lächeln und gutem Zureden. Ohne das Wissen von Ralf und die Mithilfe von Michael läge ich heute noch unter dem Womo! Jetzt aber erreichen wir trotz der verspäteten Abfahrt am Mittag nach dreihundertfünfzig Kilometern wohltuender Landschaft dem Thompson River entlang noch vor Sonnenuntergang den Touristenort Jasper. Auf diesem Weg begeistern uns Weisskopfadler auf einem dürren Baum und der Welt beste Burger in einer Bikerkneipe. Ich habe meinen Gästen versprochen, morgens zu den Miette Hot Springs zu fahren. Dort wollen wir uns waschen und ausruhen. Vom Parkwärter erfahren wir: Die Hot Springs sind vor dem einbrechenden Winter Mitte Oktober bereits geschlossen.

 

Am Maligne River bewegt sich ein weibliches Grosshornschaf zur besseren Übersicht auf der Strasse. Ihre drei Kids grasen unterhalb der Strasse an einem steilen Hang. Es wäre für Bären ein Leichtes, sie zu überraschen. Die weiblichen Schafe tragen kurze Hörner wie Gemsen, während die männlichen Schafe oberarmdicke Hörner tragen.  Ralf entdeckt am Maligne Lake eine Moose-Dame. In Europa Elch genannt. Unweit von ihr der gewaltige Stier. Trotz der Grösse sind sie im Dickicht kaum aufzuspüren. Fasziniert von der Wucht, der eigentümlichen Kopfform und den grossen Schaufeln am Geweih des Stieres sind wir nicht mehr zu halten. Wir nähern uns näher als erlaubt! Mein Herz tickt schneller! Wir staunen stumm. Soooou schööön!

 

Ein wolliger, hellbrauner Marder hüpft über eine Insel daher und schwimmt an Land.

 

Zurück vor Jasper grast eine grosse Herde Wapiti, dominiert von einem Riesenstier. Er  verscheucht gelegentlich Nebenbuhler und wittert selber wieder lustvoll den weiblich anziehenden Duft.

 

Am Glacier Parkway 93 schauen wir in die tosenden Wasser der Athabasca und Sunwapta Falls. Später öffnet sich uns - nicht ohne die Schranken  zu ignorieren - das Gletschertor am Athabasca Gletscher. Die Bighornschafe sind in tiefere Lagen gekommen. Die männlichen Grosshornschafe bewegen sich in Verbänden bis zu zwanzig Tieren. Die weiblichen Schafe verdienen mit ihren Kids ihr Brot als Einzelgängerinnen.   

 

Den nördlichsten Punkt unserer Reise finden wir drei in Prince George, dem Ausgangspunkt aller noch nördlicheren Reisen. Wir aber drehen vorsichtshalber nach Süden, denn der Winter kündet sich in den neuverschneiten Bergen an.

 

Fünfundachtzig Kilometer vom Hwy 97 bei Quesnel ostwärts abzweigend gucken wir durch die Fensterscheiben in die verschlossenen Häuser des Goldgräberortes Barkerville. Der Ort erscheint menschenleer. Türen knarren im Wind, Aushängeschilder schlagen gegen die Aufhängung. Barkerville ist eine renovierte Geisterstadt. Im Sommer werden die BesucherInnen durch kostümierte BetreuerInnen begleitet. In der verlassenen Stille von Mitte Oktober gefällt mir das historische Dorf.

 

Die Landschaft am Hwy 97 südlich von Hixon (wir besichtigen auch die Hixon Falls) gefällt mir ungemein. Vor allem die braunen Hügelfelder der Kuhfarmer. Das Vieh weidet im Trockengras. Ab und zu glänzt im Abendlicht ein Moor-See davor. Von wegen Wintereinbruch. Auf siebenhundertfünfzig Höhenmetern steigt das Thermometer auf 23 Grad Celsius. Der Himmel präsentiert sich oft wolkenfrei.  

 

Noch reicht das Eis, das Ralf vom Athabasca-Gletscher abgeschlagen hat und im Tiefkühler lagert für einen abendlichen Whisky. Die Flasche aber wird leer.

 

Immer mehr Campgrounds und Parks bleiben ab 20. Oktober geschlossen. Whistler wird die Skisaison erst Ende November eröffnen. Noch tragen die Bäume herrlich bunte Blätter.

 

Die Wassermassen über die Brandywine Falls und Shannon Falls zeugen von starken Regenfällen, während wir im Hinterland durch trockene Gegenden gefahren sind.

 

Bären, von denen wir auf den letzten 3400 Kilometern einen einzigen gesehen haben, gewinnen unsere volle Aufmerksamkeit. Aber auch Mäuse. Zwei davon richten sich gerade im Momo wohnlich ein. Ein Kissen im Stauraum ist bereits zernagt. Begreifst du, dass ich den kleinen Viechern den Garaus mache?

 

Am 24. Oktober fliegen Michi und Ralf mit ihren Erlebnissen und Bildern nach Nürnberg zurück. Ich lasse mich für einige Reparaturarbeiten in Vancouver nieder.

 

Elf Wochen nach dem Urknall ist die Frontscheibe nach einem dreissigfachen e-mail-Verkehr dahin und dorthin in Vancouver angekommen, beim Zoll ausgelöst und von Broco Glass am Womo eingesetzt. Manche Dinge brauchen Zeit. Achtzehntausend Kilometer bin ich mit dem Leck gefahren. Angst um die Scheibe habe ich nur vor dem Eis im Winter. Die Mech‘s finden es spannend, ein total unbekanntes Fahrzeug frontal zu zerlegen, um die Scheibe einzubauen. Der Einbau dauert den ganzen 28. Oktober 2014. Am Womo ist bei Weitem noch nicht alles Nötige repariert. Der Radwechsel fehlt noch, das Kühlschrankschloss ist kaputt. Die Klimalüftung weisst Risse auf, sodass die Scheiben nicht mehr klaren. Es gibt ein ständiges Piepsen, was auf Durchscheuern hinweist. Trotzdem fühle ich mich nach diesem Frontscheibenwechsel sehr erleichtert. Das Bangen um einen Termin ist nun vorbei.

 

Die Werkstatt liegt an der E Hastings. Eine saubere Sache, flotte Arbeiter. Doch der Strasse entlang bekomme ich die totale Verwahrlosung zu Gesicht. Hunderte verkrachter Existenzen liegen im Regen auf den Strassen. Manche halb zugedeckt mit Schirmen, mit Decken, mit Pappkarton. Ziemlich allen Frauen und Männern fehlen Zähne. Das Spucken fällt ihnen leicht. Wo ich hintrete und einatme, scheint Krankheit und Tod auf mich zu lauern. Ein wirklich grausamer Zustand. Mein gedruckter Reiseführer vermerkt, man solle diese Strasse nachts meiden, um unangenehmen Situationen aus dem Weg zu gehen. Keine Übertreibung. Beim Einnachten verlasse ich Hastings und fahre durch die Stadt. Nach ein paar Strassen schon glänzt der Reichtum von allen Fassaden. Das Erbärmliche liegt zurück.

 

Am 29. Oktober mache ich mich auf die Suche nach einer Pneu-Werkstatt. Nach drei Anläufen, jeder gibt mir eine neue Adresse zum Versuchen, lande ich bei einem Lastwagen-Bereifer. Der telefoniert hilfsbereit über drei Zeitzonen hinweg und wird fündig. Zwei Reifen werden in zirka sieben bis zehn Tagen eintreffen! Vancouver hat mich im Griff. Ich warte!

 

Bei regnerischem Wetter vertiefe ich mich in die schaurigen Geschichten um Michelangelo und die Päpste nach Herman Grimm, Michelangelo, Sein Leben in Geschichte und Kultur seiner Zeit. Ich habe mir auch einen Bildband über Michelangelos Werke zugelegt. Somit stille ich mir etwas den bleibenden Hunger nach Kultur und Geschichte, den mir die Bären, Fische und Eichhörnchen nicht abdecken.  

 

Soll ich dir noch verraten, dass ich mir, bevor Ralf und Michael zu Besuch kamen, eine Zerrung im Rücken zugezogen habe. Wie das? Ich habe meinen Drahtesel mit allerlei Einkäufen zu schwer beladen. In einer Kreuzung ist er - wie ein echter störrischer Esel – hinten abgelegen und hat mich zu Boden gezogen. Um vor den Autos eine gute Figur zu machen, habe ich meinen Rücken verrenkt. Diese Zerrung hat mich vor allem nachts schwer geplagt. Zweimal haben die lieben Besucher mir heisse Steine aus dem Lagerfeuer auf den Rücken gelegt. Brandwunden bin ich knapp entgangen. Heisse Steine sind sehr hilfreich. Kein Mitleid, die Zerrung ist verheilt.  

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HOPEWELL CAPE NB
HOPEWELL CAPE NB

 

2014 JULI                                                                             

 

Ich beschwere mich bei der Regierung in Halifax wegen Langeweile durch das Warten auf mein Womo. Das wirkt. Am 1. Juli setzen sie mir zu Ehren ein grosses Feuerwerk und viel Aufmarsch am Hafen an. Um den Event gegenüber den Steuerzahlern zu rechtfertigen, nennen sie das den „Canadian Day“. Ist mir auch recht. 1867 wurde Canada von den Briten durch eine „Neue Föderation“ im „British North America Act“ in Freiheit entlassen. Die Briten wollten mit diesem Zugeständnis Kanada gegen die expansionsgierigen USA stärken. Den durchgehend breiten Gürtel Kanada gibt es erst, nachdem 1871 „British Colombia“ im Westen und 1873 die „Prince Edward Insel“ im Osten der Föderation beitraten. Erst im 1999 haben die immer verdrängten Inuit im unwirtlichen Staat Nunavut, angrenzend an Alaska, eine ausgeprägte Autonomie erhalten. Im Jahre 1867, im Jahr der Staatsgründung Kanadas also,  haben die USA Alaska von den Russen abgekauft. Jetzt aber ist nicht Geschichtsstunde, sondern Feuerwerk!  

 

Ich fühle mich bleischwer. Mindestens zwei Stunden lang. Was mir Kerry mit einem Link  vorausgesagt hat, trifft ein. Das Schiff dockt wegen einem Defekt in Liverpool an. Ich muss noch zwei Tage warten! Wenigstens überlässt mir das Hotel dasselbe Zimmer 205 zum reduzierten Langzeitpreis. Am Abend muss ich über mich lachen. Wie hat mich so eine harmlose Verzögerung platt auf den Boden hauen können?

 

Das Womo ist am Freitag, 4. Juli 2014 da. Unversehrt. Sogar die Rucksäcke und Helme in der Garage hängen noch an den Haken. Ein paar Sachen finde ich nicht mehr. Ich habe sie vor Zöllnern und Dieben zu gut versteckt. Diesel, Gas, Wasser, Lebensmittel bekomme ich alles bei einem verschmitzt lächelnden alten Tankwart. Die Hilfsbereitschaft in persona.

 

Der einäugige Arthur ist auch da. Der lebt zwar nur ein paar Tage, aber heftig. Er saust die ganze amerikanische Ostküste daher, um mein Womo zu begrüssen. Graves Island ist der erste Campground, den ich anfahre. Wegen Sturmwarnung geschlossen. Vor abgesperrter Brücke verbringe ich eine ruhige Nacht. Morgens um sechs beginnt Sturm und Regen. Die Wellen zischen und züngeln nach meinem Womo. Ich ziehe es jetzt vor, mich zu den Einheimischen zu gesellen. Ein paar Kilometer Fahrt nach Chester. Auf dem Parkplatz eines Einkaufszentrums harre ich der Dinge, die da kommen wollen. Meine erste Sturmbegegnung auf einem Kontinent, von dessen Wetterkapriolen ich keine Erfahrung habe. Das gleich am ersten Tag meiner Fahrt. So lerne ich bestimmt am Schnellsten. Da und dort werden Bäume von der Strasse geräumt. Stromleitungen geflickt. Hausbesitzer räumen abgebrochene Äste aus den Gärten. Weiter nicht schlimm.

 

Lunenburg (zur Gründerzeit Lüneburg genannt) wurde 1753 von Norddeutschen und ein paar Schweizern gegründet. Die Briten haben sie hierher gelockt. Ich finde unter den Gründern auch die Namen Becker und Haag. Das knallbunte Städtchen leuchtet an einem Hang der  vielbuchtigen Küste von Nova Scotia (Neuschottland).  

 

In Lunenburg stehe ich unter xxlargen amerikanischen Wohnmobilen. Mein kleines Wohnmobil benimmt sich wie ein Schosshündchen unter lauter Labradors. Es sind zweiundzwanzig Ungetüme, zweiundzwanzig ehemalige Militärs und weiss nicht mit wie vielen Frauen an Bord aus vielen Staaten Amerikas. Militärs vom Land, von der Luft, vom Meer. Begradete und Unbegradete. Sie sind die Besitzer dieser Nobelkarrossen mit seitlichen Erweiterungen, bzw. „die Banken sind Besitzer“, sagt einer. Jedes Gefährt hat noch ein Auto im Geschlepp.  Zwei Monate wollen sie unterwegs sein und beneiden mich wegen meines open Ends.

 

Auf dem Weg nach Süden jauchzt meine Seele. Immer wieder neue Sicht auf ruhige Meeresarme. Hübsche Häuser in allen Farben und fast immer mit grossem Balkon. Immer entlang der Strasse, aber mit genügendem Abstand. Der Rasenmäher ist wichtiger wie der Staubsauger. Zehnfach, zwanzigfach grösser wie in der Schweiz wird um das Haus herum alles zu einem feinen Rasen niedergemäht. Täten sie es nicht, wäre das Landstück sehr schnell von Gräsern, Sträuchern und Bäumen überwuchert. So aber macht jedes Anwesen einen gepflegten Eindruck.

 

Die vielen kleinen Holzkirchen sind schneeweiss bemalt, egal ob sie der lutherischen Kirche, der anglikanischen, der presbyterianischen, der katholischen, der baptistischen, der methodistischen, der evangelikalen oder sonst wem von der konfessionellen Vielfalt hier gehören. In Mahone Bay stehen gleich deren drei nebeneinander. Weiss Gott, wo er da am liebsten aus- und eingeht.

 

Ein paar Minuten warte ich auf eine Fähre bei LaHave. Dann darf ich rauffahren. Mitnichten. Der Anlasser klopft wie mit einem Hämmerchen auf ein Brett. Ein Passagier bringt die böse Nachricht zum Ferryman. Der lacht und kommt mit einem Startgerät entgegen. Anhängen. Starten. Warum er lacht? Auf der Fähre hat er eben einem Lastwagen zu neuem Leben verholfen. „Schalten Sie den Motor auf der Fähre nicht ab und fahren Sie zu einer Garage“. Das tue ich bei Chevrolet und Buick in Liverpool NS. Die Batterie ist okay. Was aber dann? Es bleibt mir nichts anderes übrig, als ins Ungewisse weiterzufahren. Keine Bange, schliesslich habe ich ja wieder Glück im Unglück, dh. die Panne am rechten Ort bei hilfsbereiten Menschen. So sind sie, die Kanadier.  

 

Ein Deer, ein Reh, steht mitten auf der Strasse und äugt auf mein Nummernschild. Als ich nahe genug herangefahren bin und es das Schweizerkreuz, die Zuger Nummer und das St. Gallerwappen erkennt, nickt es und gibt den Weg frei.

 

Nach einer ruhigen Nacht starte ich im Nationalpark Kejimujik. Mitnichten. Hämmerchen-Brett-Klopfen. Nachbarn sind sofort bereit, mir Starthilfe von ihrer Offroader-Batterie zu geben. Für die folgende Besichtigung des Womos bedanken sie sich herzlichst. So ein schickes, solides Ding, meinen sie. Meinen sie! Mit ihrer Starthilfe fahre ich Nonstop nach Digby. Lastwagenmechaniker bauen mir eine neue Batterie in die knifflig, verknorzte, abseitige Halterung ein. Nach einer Stunde Ausbauversuch sage ich: „Luftblech durchschneiden und abbiegen.“ Das ist die Lösung. Ich kaufe mir auf alle Fälle ein langes Überbrückungskabel. Vielleicht kann ich in Zukunft meinerseits behilflich sein.  

 

East Ferry liegt am Ende der schmalen, hügeligen Halbinsel südlich Digby. Hier verbringe ich seelenruhig zwei Tage bis der dichte Nebel sich auflöst. Das Warten ist sogar spannend. Zweimal am Tag hebt und senkt sich das Meer um zehn bis fünfzehn Meter. Dabei entsteht ein gewaltiger Strom, der rasant einmal ostwärts, einmal westwärts fliesst. Ein Schauspiel besonderer Art. Mit vierzig Leuten schippere ich zur Walbeobachtung in die Bay of Fundy hinaus. Die Wale sollen sich hier besonders oft tummeln, weil es in dieser Bucht mit dem weltgrössten Tidenhub das Plankton zweimal am Tag aufgewirbelt. Fütterung der Wale. Heute haben sie keine Lust aufzutauchen. Ein paar Seehunde lugen verdutzt aus dem Wasser und von der Liege auf algengepolsterten Felsen. 

 

Techniker machen sich diese Strömung auch zu Nutze. Sie lassen das strömende Wasser seit 1984 durch Turbinen quetschen und gewinnen damit Strom für 4500 Haushalte. Geplant sind 300 moderne Strömungs-Turbinen auf dem Bayground, die Elektrizität für 200000 Haushalte bringen werden. Bemisst man die Leistungen nach Haushalten, damit die Fischer mitmachen? Durch diese Technik wird eine grossangelegte neue Verwirbelung der natürlichen Strömung erzeugt. Welche Meerestiere werden an diesem unterirdischen Disneyland Gefallen finden, welche den Tod?   

 

Heute will ich nicht weit fahren. Alles auf Nebenstrassen. Dann und wann einen Halt. Bewaldetes, wenig beackertes, sanftes Hügelland. Schliesslich campe ich nach fünfhundertsieben Kilometern nördlich von Antigonish in Havre Boucher. Eine aufgestellte Familie aus Ottava fordert mich zum Bad im Meer auf und nimmt mich mit zum Einkaufen in zwanzig Kilometer Entfernung. Ein anderes Ehepaar, vom südlichsten Zipfel von Florida USA angereist, chauffiert mich am Sonntag zur Eucharistiefeier in ein Trapistinnenkloster. So kann ich mein Womo bequem stehen lassen und lerne wieder und wieder andere Menschen kennen. Sie sind es, die mir das Gefühl von Heimat geben, auch wenn wir zuerst Fremde unter Fremden sind. Meine Person, mein Beruf, mein Herkunftsland sind Schlüssel zu den Herzen. Soooou schöööön!

 

Die Fortress in Louisbourg ist die französische Niederlassung auf Cape Breton um siebzehnhundert. Auf der gegenüberliegenden Seite der Bucht der erste Leuchtturm Kanadas. Aus einem Schutthügel wurde das Fort und die „befriedete Innenstadt“ in archäologischer Kleinstarbeit und mittels in Frankreich archivierten Bauplänen wieder aufgebaut. Wirklich ein gelungenes Mamutprojekt. Ein bisschen Historie.    

 

Den Ridge Campground in Englishtown bewirtschaftet seit 2001 ein Schweizer Ehepaar mit zwei Töchtern. Eine Tochter arbeitet bei Puffinboat. Diese drolligen Papageientaucher (Puffins) haben es mir angetan, sei es in Skandinavien, in Island oder eben in Nova Scotia. Der felsige, grasbewachsene Inselstreifen heisst denn auch Birds Island. Weisskopfadler schnappen sich mit atemberaubender Sicherheit Fische aus dem Meer. Mit Kormoranen, Möwen und Puffins bevölkern sie diese Inseln in Felsnischen. Auf der untersten Etage am westlichen Ende gucken zirka fünfzig Seehunde aus dem Wasser. Drollige Köpfchen, plumpe Körper. Ein einziger Pascha an Land.

 

Im nördlichsten Teil des Breton Highland Naturparks soll es Elche geben und Kojoten. Aber bei 32 Grad Celsius wagt sich niemand aus dem Schatten. Wie kriege ich ein niedliches kanadisches Eichhörnchen (Squirrel, Grauhörnchen) vor die Kamera? Die Türe offen stehen lassen und schon huscht ein Junges hinterrücks ins Womo. Türe zu. Fototermin. Ein paar beruhigende Worte von mir. Türe auf und weg.

 

Mein Womo hat nun seit April 2011 am 19. Juli 2014 77`777 km auf der Anzeige.

 

Am 19. Juli 2014 verlasse ich Nova Scotia via Fähre (22 km) und setze meine Räder auf Prince Edward Island. Einfaches Zahlsystem. Du bezahlst die Brücke oder die Fähre erst, wenn du die Insel auf einem dieser „Wege“ verlässt. Z.B bei der Confederations Bridge (13 km lange Brücke), die in den Bundesstaat New Brunswick (Neubraunschweig) führt.

 

Charlottetown ist eine hübsche Stadt mit Strassenrestaurants. Das stets sonnige, heisse Wetter (bis 29 Grad) ruft mich zum Biken und Schwimmen im Meer. Von Camp in Cymbria weg fahre ich die Nord Cap Küstenroute im Westen runter und zurück. Wandere am Meeresstrand den hohen Dünen bei Greenwich entlang.  Kartoffel-, Getreide-, Gemüsefelder wechseln sich mit Wiesen ab. Eine sehr fruchtbare Insel und nirgends sehe ich vom Wind zerstörte Felder. Sooooou schööö!  

 

Zwei Koreanerpaare laden mich auf dem Camp von Cymbria zum Muschelessen ein. Da packe ich zum ersten Mal im Leben voll Vertrauen und mit Essstäbchen zu. Zum Dank gibt es eine Womoführung und meinen kürzlich in der einzigen Destillerie von Nova Scotia in Glenora erstandenen, 14-jährigen Single Malt Whisky. Jeden Tag kommen etliche Leute auf Hausbesuch. Nicht wegen des Whiskys. Ich kann mich ins Guinessbuch eintragen lassen: „Der Pfarrer mit dem meistbesuchten Wohnmobil“. Awesome (Spitze) heisst das häufig gebrauchte Wort. Sie meinen die Einteilung, den Luxus und die schöne Ausführung, aussen wie innen. Von den Damen bekomme ich zum Abschied jeweils ein zartes Küsschen. So sind sie, die Kanadierinnen. Eine Bikerin glaubt meinen Beruf zu erraten: Astronaut. Gar nicht so weit daneben. Mit Himmel habe ich es alleweil zu tun. In Charlottetown lasse ich mir für die vielen Gäste Visitenkarten drucken. Die Gäste werden, wie Du es jetzt tust, meinen Routen und Bildern folgen.

 

Die 13 km lange Confederation Bridge von Prinz Eduard Island auf den Kontinent nach New Brunswick präsentiert sich gewaltig. Wenn schon gross, fahre ich die Ostküste hoch nach „La Dune de Bouctouche“. (Ein Drittel der Bevölkerung in New Brunswick spricht französisch. Sie nennen sich Acadier und präsentieren ihr eigenes blau-weiss-rotes Wappen). Über zwölf Kilometer zieht sich der grün-gelbe Dünengürtel vor dem Festland im blauen Golf of Saint Lawrence hin.

 

Ich will diesen Lorenz-Golf mal erwähnen, weil ich hier schon dem zweiten Schweizer „Lorenz“ in Kanada begegne, wo doch dieser Name in der Schweiz selten vorkommt. Lorenztreffen am Golf of Saint Lawrence?

 

An der Südküste von New Brunswick trotzen bei Hopewell Cape die bizarr geformten Felsbrocken den Gezeiten des Meeres, oder andersrum, haben sich von den Gezeiten auswaschen lassen.

 

Von der Halbinsel Saint Andrews aus geht`s nochmals auf Whale watching, bevor ich mich für längere Zeit vom Meer entferne und ins Landesinnere vorpirsche.

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2014 JUNI

 

Am 10. Juni 2014 verabschiede ich mich in Vilters. Meine Geschwister und Verschwägerten stellen sich zum Abschiedsfoto neben das Womo hin. Das gab es noch nie. Jetzt, wo sich alle Augen mit Tränen füllen, ahne ich, dass ich was Ausserordentliches vorhabe. Zwei Tage später verabschiede ich mein Womo im Hafen von Hamburg. Seabridge bringt es auf einem dreihundert Meter langen Frachtschiff aufs Meer. Im Rumpf des Giganten finden die Fahrzeuge, das Rollmaterial Platz. Auf das Deck werden Container geladen. Jede Woche fährt so ein Schiff aus.

 

Marco und Martina entdecken mit mir die Hansastadt. Eine Stadt- und Hafenrundfahrt bringt uns Orientierung. In der weltgrössten Miniatur-Modell-Eisenbahn und Miniatur-Staaten-Ausstellung sind wir von der immensen Arbeit, die dahinter steckt, gefesselt. Unmöglich alle fantasievoll erstellten Details zu entdecken. Wirklich ein Wunderland. Mit der Reeperbahn sind wir bald fertig, auch wenn sie nicht mehr so schmuddelig ausschaut wie in meinen Jugendjahren. Das Interessanteste an der Reeperbahn ist für mich die Tatsache, dass einst auf dem 940 Meter langen Strassenabschnitt die Seile in ihrer ganzen Länge „geschlagen“, gedreht wurden. Eine Seilfabrik auf offener Strasse. Von daher der Name. Der weitläufige, grosszügige Hagenbeck-Zoo bewirkt in uns trotz seiner Grösse das Mitleid mit den offensichtlich gelangweilten Tieren. Was würden die in der freien Wildbahn alles anstellen. Hier sind sie so gefangen wie die Frauen auf der Reeperbahn.  Das Musical „König der Löwen“  begeistert mich mit seiner Musik und den fantastisch-fantasievollen, stetig wechselnden Bühnenbildern erneut. Die Parks und der Hafen machen für mich die Stadt angenehm. Marco und Martina teilen all dies Erlebte mit mir. Dann fliegen sie nach Kloten zurück und suchen den Weg nach Vilters.

 

Nach einer Woche Hamburg will ich nachschauen, wo das Frachtschiff langfährt. Ich besteige ein Flugzeug Fl 511, das mich nach Keflavik (Island) bringt. Regen über Island. Keine Spur vom Frachtschiff. Also fliege ich weiter über Grönland-Süd nach Halifax Fl 607 (Ostküste von Kanada). Vielleicht ist das kleine Ding auf dem weiten Meer da unten mein Frachtschiff. Zwei Wochen schippert die Fähre dahin. Nach zwölf Stunden seit Hamburg lande ich am 17. Juni, der europäischen Zeit fünf Stunden hinterher, in Halifax. Am 2. Juli 2014 werde ich mein Womo wieder kriegen.

 

Drei Wochen ohne Womo. Ich bin etwas deprimiert am ersten Regentag. Das Hotel weit draussen in Dartmouth. Unschöne Industriegegend. Keine Läden und Restaurants. „Weit weg und ganz nah“ heisst das Buch von Jojo Moyes, das ich seit meinem Abflug auf meinem „tolino“, dem elektronischen Lesegerät lese. Ich habe mir das „tolino“ und Bücher dazu in Hamburg geschenkt, damit die Literatur physisch für das Womo nicht ins Gewicht fällt. Mir seelisch schon. Die Probleme der alleinerziehenden Frau mit zwei Kindern „Weit weg und ganz nah“ entsprechen dem aktuellen Sturmwetter. Vom Sturm zerlegte Häuserzeilen im Fernseher und „Land unter“. Eiergrosse Hagelbälle. Werde ich in den nächsten Monaten ohne Schäden davonkommen? Düstere Gedanken. Mulmige Gefühle.

 

Am zweiten Tag reisst der Himmel in Halifax auf. Öffentlicher Verkehr bringt mich in die Hafenstadt. Der Hafen, die Ruhe um die grasbewachsene Zitadelle und der öffentliche Gartenpark sind die Schönheiten, die bald aufgezählt und zu Fuss erreicht sind. In der Innenstadt laufen alle Leute mit Pappbechern umher. Die einen trinken Kaffee, die andern halten den leeren Becher hin. Musst aufpassen, dass du die Wohltätigkeits-Münze nicht in einen vollen Becher wirfst. Über die unglaublich vielen Doppelsitzer in Halifax will ich dir nichts schreiben. Ich weiss ja nicht, ob sie krank sind oder überfressen oder beides. Da herrschen amerikanische Verhältnisse. Die Autofahrer verhalten sich gegenüber den Fussgängern unglaublich zuvorkommend. Wenn du noch entfernt hinten auf dem Gehsteig stehst, warten sie schon zwanzig Meter vor dem Streifen, um dir Zeichen zu geben, du sollst queren, egal wie lange sich die Schlange hinter ihnen ausstreckt.  

 

Ich besorge mir das Nötigste: Ein Navigationsgerät mit Karten von Kanada und USA, damit ich später freihändig fahren kann; Strassenkarten für Touristen, einen Canada-Pass für den generellen Eintritt in alle Parks und Monuments, um Geld zu sparen und nichts zu verpassen; einen Strom-Adapter, um alle meine Geräte am Leben zu erhalten; Veloflickzeug, um auch bei Plattfüssen Ruhe zu bewahren; Kleingeld aller Art in einer Bank erhandeln, um den ÖV, die Waschmaschinen und Automaten ohne Restgeldrückgabe exakt zu füttern; ein LTE Rocket und eine Sim-Karte mit einem Datenvertrag dazu, um wo immer möglich, mit Dir über Laptop, Ipad und Handy verbunden zu sein. Alles erledigt.

Nur das Womo schippert noch irgendwo daher. Das Warten dauert eine gefühlte Ewigkeit.

 

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