2024 JANUAR 

 

habe ich nicht als Bericht, sondern als e-mail versandt, darum stelle ich es hier nochmals voran.

Hallo

vorweg: mir geht es gut, sehr gut. Die erzwungene Rötung an den Schläfen und topsurtête sind wieder verschwunden. Der mögliche weisse Hautkrebs prophylaktisch besiegt. Meinem Bruder Paul sei Dank. Er hat die Gefährdung bei mir entdeckt.

Im Monat Januar bin ich nicht wirklich gereist. Habe viel Privates erlebt. Das Womo habe ich probeweise zwischen Vilters und St. Gallen bewegt. Und siehe da: Es streikt immer noch beim Starten mit der Fehlermeldung 092. Motor defekt. Wegfahrsperre. Und trotzdem komme ich beim dritten, vierten Kurbeln weg vom Fleck. Aber unangenehm ist diese Sache ja schon, besonders wenn Gäste dabei sind.

Bin schon ganz gespannt, ob ich am Ende der Woche wieder starten kann. So lange bleibe ich nämlich auf dem TCS Camping in Sion VS. Und dann schaue ich weiter... 

Ja, ich stecke im Wallis, weil ich mal schauen will, wie sich so ein Winter hier abspielt. Wie überall in der Schweiz. Um Schnee knirschen zu hören, müsste ich weit hinauf in die Seitentäler und auch dort knirscht es nicht so richtig. Jetzt bleibe ich unten im Tal und kurve mit dem Velo in der Gegend umher. Im Tal fehlt aller Schnee.

Ich wünsche dir von Herzen einen guten Monat Februar, viel Gfreuts. Liebe Grüsse Lorenz

 

 

 

2024 Februar 

 

Warnung: Es geht gleich ums Wohnmobil. Entgegen meinem Plan verlasse ich Sion nicht bereits am Samstag. Falls ich unterwegs Hilfe brauche, bin ich am Wochenende aufgeschmissen. Starten mit meinem Womo ist Glücksache. Manchmal auf Anhieb, öfter nach zwei-, drei-, viermal kurbeln. Das schiebt mein Vertrauen immer wieder aufs Glatteis.

 

Ich fahre erst am Montag, 5. Februar 24 von Sion über La Gruyere. Mittagspause. Viermal kurbeln bringt nichts. Erst das fünfte Mal. Simon Fürk ist nach einer Woche in St. Gallen nicht zu erreichen (später erklärt er, er nehme die Anrufe auf seiner privaten Nummer nicht mehr ab. Gut zu wissen). Also versuche ich es mit Daniel Luder AG in Höchstetten/BE. Du erinnerst dich. Daniel Luder hat mir mit seinen beiden Söhnen Beat und Martin schon im März 2021 geholfen, als ich im Jura wegen der schlappen Schaltseile an einem Baum hängen geblieben bin.   

 

Nun verbringe ich die Nacht auf dem Firmaareal in Höchstetten, östlich Bern. Die Fehlermeldung vom Nichtzünden sollte behoben sein. Die Fehlermeldung ja, aber nicht die Ursache, nicht der Schaden. Nein, anderntags finden die Mechs versteckt hinter dem Steuerrad ein Stromkabel zur Zündung, das aber an der Halterung durchgescheuert ist und selbstherrlich, besser selbstschwächelnd das Zünden erlaubt oder verhindert.

Beat entsetzt sich beim ersten Schalten über das schlaffe, unpräzise Geschlottere. Dieses ärgert mich schon seit dreizehn Jahren und hat schon wiederholt repariert werden müssen. Die Schaltseile sollen ersetzt werden. Ich warne die Mechs wegen der Überlänge der Seile von mindestens 20 Zentimetern. Spezialanfertigung ist nötig. Bereits im 2021 haben wir in Höchstetten vergeblich auf Schaltseile gewartet. Sie seien zu kompliziert konstruiert und können nicht hergestellt werden, hiess es bei der Firma Technomag in Bern nach drei Tagen.

 

Thomas hat jetzt eine Nacht lang darüber nachgedacht und schlägt morgens um sieben vor, die überlangen Schaltseile auszubauen und die kürzeren Originalseile durch eine neue Führung und Bohrung einzufädeln. Bereits um 17 Uhr sind diese Zauberer mit der Arbeit fertig. Hey, was bin ich dankbar für beide Reparaturen. Starten geht zuverlässig und Schalten wie von selbst. Ein neues Fahrgefühl, Reisegefühl, Sicherheitsgefühl nach dreizehn Jahren! Unbezahlbar! Reiselust kommt auf!

Muss ich eigentlich noch anfügen: Pech verfolgt mich jederzeit und allerorts, aber noch viel mehr Glück!

 

Die nächste Reparatur betrifft das E-bike. Anfänglich war es unpräzises, knackendes Schalten. Das hat es wohl vom Womo gelernt. Ein Velomech in Kirchberg/BE stellte fest, die Kassette (Zahnradkränze) und die Kette müssen ersetzt werden. Es ist jetzt der 6. Februar 24. Einen Termin kann er mir erst für Ende Februar anbieten. Alle wollen wieder in die Pedale steigen. Darauf kann ich nicht eingehen. Muss weiter!

 

Das havarierte E-bike bringe ich zum Mech in Vilters (7.2.24). Der sieht eine Lücke in seinem Terminkalender und repariert mein e-bike in drei Tagen. 1. Tag Diagnose und Teile bestellen; 2. Tag auf Teile warten und Fasnacht. 3. Morgen reparieren und servieren). Super, weil nächste Woche geht`s mit Schwager Hans ab zum Biken in den Tessin.

 

Notfall. Der Pfarrer vom Mittleren Sarganserland ist schwer erkrankt. Kannst du bitte am Sonntag, 11. Februar 24 den Gottesdienst in Wangs und in Mels übernehmen. Notfall: Ja, mache ich doch gern! Bei den Gottesdiensten mache ich mir immer mehr Leute im Sarganserland vertraut.

 

Bärbel und Hans kommen mich übers Wochenende 10./11.2.24 in Vilters besuchen. Sie sind unterwegs über Genua mit der Fähre nach Marokko. Ich muss meinen Zündschlüssel verstecken und den Dieseltank trockenlegen, weil ich sonst gleich hinterherfahre, so gross ist meine Reiselust Dank des reparierten Womos.

 

In Rotkreuz kann ich erst abends um sechs Uhr eintreffen. Vorher sind die Strassen wegen des Fasnachtsumzugs gesperrt.

 

Theres bleibt zu Hause und lässt mich am Montag mit Hans zum E-biken in den Tessin fahren (12.2.24). Winter-Campo Miralago. Ab Mittag fahren wir per e-bike Richtung Bellinzona. Schnupperfahrt.

DI, 13.2.24 Ab Ditto fahren wir statt Monti di Motti nach Monti della Gana (1382m).

MI, 14.2.24 Verzasca, Brione, Sonogno, Cabioi (1082m, 67km).

DO, 15.2.24 Contra, Monte Bre, San Bernardo, Oratorio (1089m, 26km)

 

FR, 16.2.24 Von Tenero geht’s durch den Gotthard nach Rotkreuz, wo Hans seine sieben Sachen aus dem Womo entlädt und ich über Vilters nach Chur fahre, wo ich am Nachmittag den Trauergottesdienst für Albert Vanoni halte. Albert ist der Bruder meines (+2006) verstorbenen Studienkameraden Gottfried Vanoni. Albert erkrankte 1974 an MS und leistete - von seiner Frau Agi begleitet - trotz Krankheitsschüben unerhört viel in der Öffentlichkeit im Kanton Graubünden.

 

In der verwinkelten Heiligkreuzbetonkirche von Architekt Förderer habe ich vor fünfzig Jahren meine erste Studien-Versuchs-Predigt gehalten! Ich kann mich gut erinnern, dass nach der Predigt niemand geklatscht hat. Ich auch nicht.  

 

Nach den guten Bike-Erfahrungen im Tessin erweitere ich diesmal (18.2.24) meine Rheindammtour von Bad Ragaz über Serelli nach Pfäfers und Vilters.

 

Lydia Becker-Vatug ist eine Verwandte von mir. Ich gestalte ihre Urnenbeisetzung in Vilters.

 

Die Lebenden lass mich ziemlich in Ruhe. Die Kranken und Toten halten mich auf Trab!

 

Für den erkrankten Pfarrer der Seelsorgeeinheit Mittleres Sarganserland feiere ich die Sonntagsgottesdienste in Wangs und Mels am 25.2.24 und in Weisstannen und Sargans am 3.3.24. Es sind durchaus schöne Erlebnisse für mich. Ich fühle mich willkommen und brauchbar und die Leute geizen danach nicht mit Echos und Komplimenten. Das ist Seelennahrung. Wie bin ich doch privilegiert, mir diese Nahrung nach dreizehn Jahren Pensionierung dann und wann abzuholen.

 

 

Die vermehrten Einsätze in den Sarganserländer Pfarreien geben der Feier meines 50-jährigen Priesterjubiläums am 14. April 2024 in Vilters etwas Boden. Ich freue mich darauf. 

2024 MÄRZ 

 

Mein vielgestempelter Reisepass endet mit dem Gültigkeitsdatum vom 11. Februar 24. Am 11. März hole ich mir den Ersatzpass vom Ausweisbüro in Zug ab, den ich dort seit 2017 hinterlegt hatte. Er ist noch zwei Jahre lang gültig. Nötig war der Ersatzpass, weil der Iran keinen Reisenden mit USA und Israel-Stempeln im Pass in ihr Land einfahren lässt. Führen die sich nicht selber hinters Licht? Ich darf zwar in diesen verfeindeten Staaten gereist sein, nur dürfen Reisen im Pass nicht dokumentiert sein.

 

Mein Schwager Hans ist mit sechsundachtzig Jahren nicht zu bremsen. Vom Camping Miralago in Tenero aus, e-biken wir nach Mergoscia. Am nächsten Tag achtzig Kilometer ins Maggiatal nach Bignasco und zurück. Am dritten Tag nach Monti di Motti und Monti della Gana mit 1140 Meter Höhenunterschied. Auf der Rückfahrt nach Rotkreuz will Hans in Lavorgo Zwischenhalt machen und nach Calonico zur wildromantisch gelegenen Kirche San Martino e-biken. Ich wage nicht zu glauben, dass ich in acht Jahren noch diese Leistung wie er jetzt erbringen werde. Gratuliere. Während wir tagelang im Tessin biken, erledigt Theres mit zweiundachtzig Jahren alle vorgesehenen und nichtvorgesehenen Aufgaben und Dienstfahrten zu Hause in Rotkreuz. Gratuliere. (12.-15.3.24)

 

Das Jahreskonzert der Musikgesellschaft Vilters unterhält uns mit schmissiger Blas-Musik. Auch die Jungbläser überzeugen mit aufwändigen Stücken. Die kleinen und grossen Tambouren erstaunen mit gekonnten und präzisen Wirbeln. Ich freue mich sehr zu vernehmen, die Dirigentin Ramona Gätzi ist die Nichte der Mesmerin Brigitte Möckli-Gätzi in St. Gallen-Halden. Das feine Nachtessen von Sacha und der Küchenmannschaft gibt uns Boden bis Mitternacht.

 

Knapp bevor Trudi zu sich nach Hause nach Malaga entwischt, kann ich sie noch in Untereggen besuchen. Eine Freundschaft, entstanden aus dem Engagement für die religiösen Feste ihrer Kinder. Tragende Beziehungen sind so schön. So auch, wenn Adrian und Tobias mir in Abtwil über Projekte aus ihrer Arbeit und Freizeit erzählen.

Quicklebendig gestalten über dreissig Kinder den Palmsonntag in Landquart, wo wir der Verstorbenen Zumbühl`s gedenken. Der Firmling Neels hat die diesjährige Osterkerze hübsch gestaltet und stellt sie uns vor.

 

Der Jodelchorpräsident Paul Niederberger stellt mir die Lieder für mein Priesterjubiläum zur Auswahl vor. Mit neun Einsätzen wirkt das wie ein Jodlerkonzert.

 

Eigentlich bin ich wegen des 50-JahrJubiläums am Dienstag, 26. März 24 und der Chrisammesse in der Kathedrale St. Gallen. Bei solchen Angelegenheiten finde ich immer Platz bei der Neudorfkirche. Der Tag fängt gemütlich an. Heidi und Gallus zeigen mir am Vormittag, was man aus einem berühmten Bankgebäude – Bauzeit 1889-1891 – machen kann. Zum Beispiel einen luxuriösen Globus einbauen. Den Nachmittag kann ich in gemütlicher Ruhe verbringen, es sei denn… Ich entdecke wieder einmal, wie undicht der Abwassertank leckt. Sofort fahre ich zum Wasser ablassen. Telefon an Camping Arbon. «Wir haben zwar keine Zeit, aber du kannst kommen». Um Ein Uhr stehe ich vor den Toren und werde sofort zur Diagnose vorgelassen. Nach eineinhalb Stunden ist der Fehler gefunden und repariert. Diesmal habe ich wirklich mit einem unmöglichen Eingriff am Abwassertank gerechnet und habe mich vor Ort schon nach neuen Modellen umgesehen. In Tat und Wahrheit ist es eine Lapalie, die man aber erst entdecken muss. Die Dichtung des Reinigungsdeckels ist verödet. Wasser hat sich unmerklich davongeschlichen.

 

Der Bischof Markus Büchel ehrt alle Jubilare des Bistums, weiht die Hl.Öle und feiert die Eucharistie. Musikalisch haben die Dommusiker einen Bistumschor zusammengestellt, der zusammen mit dem Volk beschwingte Lieder singt. Die zeitlichen Längen, die während der Liturgie entstehen, werden uns durch Orgelmusik (nicht für alle) angenehm gestaltet. Beim anschliessenden Nachtessen im Musiksaal – zum Reden ungeeignet -  müssen wir uns leider anschreien, was eine Kommunikation sehr erschwert. Das bedauere ich wegen meiner Gäste.

 

Am Hohen Donnerstag öffnet der Mesmer in Vilters beim Gloria des Abendmahls ein Kirchenfenster, um die Glockentöne bewusst in die Kirche einzulassen. Die Orgel folgt fröhlich den Glockentönen und die Ministranten schellen stürmisch in die Jubeltöne mit rein. Diese Choreografie geht mir zu Herzen. Dann folgt die Stille der Einsamkeit im Garten von Gethsemane.

 

Am Karfreitag schweigen die Glocken. Junge Männer drehen die Rätsche, die laut und unschön zur Besinnung über Jesu Tod am Kreuz und die vielen Tode heute aufruft. Das Rätschen ist den demütigenden Geräuschen nachempfunden, die Aussätzige in früheren Jahrhunderten als Warnung für ihre Nähe erzeugen mussten.  

      

Die zwei Kirchenchöre von St. Johann und St. Michael in Zug singen die Spatzenmesse von Mozart am Ostersonntag (31.3.2024) und Osterlieder in der Johanneskirche sehr fein. Surrexit Dominus vere! Alleluja!   

 

 

2024  April

 

Wäre es der 1. April würde ich an lauter Scherze denken. Aber es ist der 2. April. Zum Ersten: Kornel schreibt, sein Womo laufe rechtzeitig vor der Fahrt nach Tenero wieder! Es litt an einem Marderschaden. Zum Zweiten: Ich kriege das blockierte Whatsapp auf dem PC wieder hin und bin somit viel schneller im Nachrichtenschreiben. Zum Dritten: Marco ruft Hans Grünenfelder an, um all die grossen Bäume vor dem Haus fällen zu lassen. Die Stürme von West und Süd wirken immer bedrohlicher. Am Abend besichtigt Hans Grünenfelder bereits die Situation und zählt sechs Bäume, die Marco opfern will. In knapp einem Monat soll die Arbeit getan sein. Zum Vierten: Auf Paul`s Haus kann ich zwei Ziegel befestigen, damit sich der Föhn nächstes Mal daran die Zähne ausbeisst. Zum Fünften: Roger teilt mit, er könne an Auffahrt mit mir nach Taizé fahren. Taizé bestätigt, wir seien willkommen! All diese Ereignisse am heutigen Tag freuen mich sehr.

 

Und weiter geht`s! Die Akkus sind geladen. Hans führt mich von Rotkreuz über Cham-Baar zur Lorze. Das Lorzental entlang bis zu den Höllgrotten. Ansteigend auf den Zugerberg. Endlos und steil runter nach Arth Goldau. Über Immensee nach Rotkreuz. 53km und 1040 Höhenmeter. Direkt an den Mittagstisch von Theres.

 

Franziska und Kornel lagern mit ihrem vierjährigen Töchterchen Yara im Wohnmobil in Meierskappel und kommen am Nachmittag per bike bei Theres zu Besuch.

 

Die Aussicht von der Seebodenalp und der Alpwirtschaft Räb ist gewaltig. Älplermaccaroni gibt es leider erst ab Mai. (6.4.24).

 

Hannaé feiert ihren dreizehnten Geburtstag. Was für ein Alter, wo die Welt täglich Kopf steht oder in merklichere Schieflage gerät, als dass die Erdachse es vorgibt! Hannaé meistert das gut.

 

Auf zauberhaften Wegen biked Hans mit mir den sanften Hängen mit viel versteckten, hübsch gelegenen Bauernhöfen über Meierskappel nach Udligenswil und hoch zur Jost-Wallfahrtskirche in Dottenberg, und weil es so flott vorangeht gerade noch zum Michelschrütz über Rotkreuz (8.4.24). 38km, 959Höhenmeter. Direkt an den Mittagstisch von Theres. Diese Tour will ich später noch einmal machen, wenn der Saharastaub die Sicht auf die umliegenden Berge und Landschaften freigibt.

 

Mein Klassenkamerad Bruno erlebt beim Kaffee im Novellas in Vilters mit, wie ich mich bei einem Notruf (9.4.24) recht spontan für eine Beerdigung am Samstag vor meinem Jubiläumsgottesdienst in Mels entscheide. Eigentlich wollte ich ab Freitag für einen Geburtstagsbesuch am Samstag von Patrice in St. Gallen sein und am Abend kommt Stefan aus dem Tessin bei mir angereist. Er wird bei mir nächtigen, um am Jubliäumsgottesdienst teilzunehmen. Das alles werde ich noch hinkriegen.

 

Zur Vorbereitung der Beisetzung von Hedy in Mels bike ich nach Plons. Weil der Saharastaub weggeregnet ist und die Sonne wieder wärmt, fahre ich der Seez entlang weiter an blühenden Wiesen und Bäumen vorbei bis zum Walensee und nach Vilters zurück. 44 bequeme Kilometer.

 

Die geräumige Kirche in Mels wird zur Beisetzung (13.4.24) fast gefüllt mit Menschen die Anteil nehmen an Hedy`s Abschied. Ein bewegendes Beispiel, wie Menschen enorme Ausstrahlung haben können durch ihre Offenheit und Schaffenskraft. Hedy war als ältestes Kind mit fünfzehn Geschwistern im Bergdorf aufgewachsen. Sie war eine Ersatzmutter von Kindsbeinen an und dann selber Mutter von acht Kindern.

 

Patrice wurde zwei Tage vor meiner Priesterweihe 1974 geboren. Er feiert also am 13. April den fünfzigsten Geburtstag. Mit Amaia und seiner Frau Alyona und ein paar Blumen-Bildern im Gepäck ist er von Berlin angereist, um in seiner Heimatstadt St. Gallen zu feiern und die Bilder zum Verkauf auszustellen.

 

In Vilters füllt sich die Kirche am 14.4.2024 zu meinem 50 Jahre Priester Jubiläum. Beim Eintreten der Gäste begrüsse ich sie alle persönlich. Das treibt mir viele Tränen der Rührung in die Augen, weckt aber auch gegenseitig alle Sinne zum Feiern. Der Jodler Klub Pizol Vilters verbreitet von Anfang an den Schauer, den Naturtöne in einem erwirken können. Zu meinen Erinnerungen, die ich preisgebe, gibt es viele Lacher. Ohne jede Vorprobe stimmen die Gäste zum Einsetzungsbericht des Abendmahles in den untermalenden Gesang des Taizé-Liedes «Ooo, Adoramus te, o Christe» ein. Die Jodelgesänge begleiten uns berührend während der ganzen Feier. Zur Überraschung hält Charlie Wenk (Mitarbeiter während dreissig Jahren) am Schluss eine Laudatio mit lustigen Erinnerungen und Anekdoten. Das Publikum geniesst seinen Auftritt, bei dem er mich immer mehr zum Schwitzen bringt. Spontan singen wir «unser» Vaterunser nach Rimski Korsakow, das wir in St. Gallen eingeführt haben.

 

Im Pfarreiheim sind die Tische hübsch geschmückt und die Wände mit vielen Fotos aus meiner Priesterzeit. Da und auch im Festzelt wird eine schmackhafte Suppe von Marco Lutz serviert. Für jede Menge Kaffee und Kuchen haben viele Frauen auf Anfrage meiner Schwägerin Betty gesorgt. Die Blasmusik unterhält uns mit vielen feinen Melodien. Die Mesmer Stefan und Reto, die Kirchenverwaltung mit dem Präsidenten Vinzenz Beeler und viele freiwillige Helferinnen und Helfer, der Kaplan Martin Blaser, der Jodler Klub Pizol und die Musikgesellschaft Vilters haben mir und den Gästen ein wunderschön stimmiges Fest beschert. Soooou schööön! 

Die meisten Fotos zu diesem Anlass auf meiner Webseite stammen von Ignaz Good, Sarganserländer. Eine Auswahl davon findest du auf.

https://lorenz-unterwegs.jimdofree.com/

 

CHARLIE WENK schreibt:

«Lieber Lorenz,

ja Dein Festtag war ein wunderschönes Erlebnis. Dein Dorf in Dankbarkeit zu erleben und dich in alter Vitalität, Frische und Bodenhaftigkeit, das war einfach ein Geschenk. Der Rückblick auf Dein Leben und die Tätigkeit war eine grossartige Predigt: Respekt allen Menschen gegenüber - das hat Dein Leben geprägt und da warst Du allüberall ein Missionar der First Class. Für mich war es eine grosse Ehre und eine Bereicherung, etwas zu unserem Miteinander von 50 Jahren zu erzählen. Ich glaube, ich habe nie für eine Predigt gleichviele Rückmeldungen bekommen wie nach dem Gottesdienst.

Mit Dir zusammen vorne zu stehen, das war ein Glücksgefühl wie einst in der Halden oder in Gossau und "unser" gesungenes Vaterunser war ein spiritueller Dessert. >Im ganzen Gottesdienst und in Deiner Art zu sein, zu sprechen, zu beten zu würdigen habe ich gespürt, welche Botschaft Du jetzt vermehrt im Oberland leben kannst. Kein Wunder, sind Dir so viele Menschen unendlich dankbar und mögen Dich einfach «huere guet».  Charlie                Liebe Grüsse auch von Margrit»

 

«Lieber Lorenz
Es war ein wunderbarer Sonntag - dein Festtag. Mir hat nichts gefehlt. Deine Art der "Verkündigung", wo es um Menschen und Reich Gottes und nicht um Theorie geht, hat mich berührt. Viele Berührungspunkte, Begegnungen und Erinnerungen wurden wachgerufen und bleiben lebendig. Ja, wir haben vieles miteinander erlebt und dafür bin ich dankbar. Ja, ich bin dankbar für die Zeit, die du mit unserer Familie geteilt hast - sei es die Zeit des Anfangs während des Studiums, die Unterstützung in der Seelsorge, die Hochzeitsfeier mit Priscilla in Braunau, die Mittagessen in Flawil, das Aufwachsen der Söhne. All das lege ich in die Tonschale und den Kelch, die du von Taizé zur Hochzeit gebracht hast.
In den vielen Jahren kamst du immer wieder vorbei und hast das Vertrauen unserer Söhne gewonnen. ...Tobias als Göttisohn, der 2 Jahre während der Ausbildung bei dir wohnen durfte. 
Und neben den vielen Begegnungen bei der Gruppe S (Solidarität) wurde ich immer reicher. So schön!
Ja, du bist ein Freund unserer Familie - du hast alle 10 Grosskinder getauft. So erfahren sie, was "Kirche" sein könnte hier und jetzt.
Du siehst, dass in mir vieles lebt, das mich an dich erinnert. Ich werde die Schätze bewahren und wachhalten.
So möchte ich dir danken für die Zeit des Miteinanders - Ausdruck dafür ist die sonntägliche Feier. Herzliche Grüsse Rolf»
 

Maricka telefoniert mir eines Tages begeistert von Berlin aus: «Im Fernsehen spricht ein Theologe oder Sozialarbeiter aus Zürich. Seine Glaubens- und Lebenshaltung gegenüber den Süchtigen und sein Engagement als HIV-Pfarrer sind unglaublich. So ein toller Mensch. Den solltest du kennenlernen.» «Liebe Maricka, den kenne ich wohl. Er war mein Studienkollege in Chur.» Heute (18.4.24) sitze ich bei seiner Partnerin Silvia und diesem Guido Schwitter in Domat/Ems am Tisch, nachdem er meinen Jubiläumsanlass in Vilters besucht hat.

 

Die Taufe von Lias kann nicht wie bei seinem Bruder Lars auf der Alp stattfinden. Neuschnee bis in die Niederungen. Wir erleben eine innige Taufe in der St. Annakapelle in Vilters (21.4.24).

 

Heinz Amrein und Hans Grämiger treffe ich wie abgemacht in Luzern (23.4.24). Wir sind der letzte mobilisierbare Rest unserer Maturaklasse von Altdorf und quasseln über Kameraden auf unseren Stationen in Rheineck, Altdorf und Chur.

 

Marco – mein Womo-Platzhalter in Vilters - lässt seine fünf grossen Bäume im Garten fällen, einen japanischen Kirschbaum, eine sibirische Tanne, einen Nussbaum, eine Lärche und eine Rottanne (27.4.24). Eine Weisstanne bleibt vorläufig stehen. Sie soll im Dezember den Kranzerinnen und als Christbaum in oder vor der Kirche dienen.

 

Heute (25.4.2024) feiern Theres und Hans ihren 60. Hochzeitstag. Eine beeindruckende Zahl. Seit sechzig Jahren darf ich so Vieles mit Ihnen und ihren Familien erleben. Für ihre drei Söhne-Familien sind sie bis dato unersetzliche Eltern und Grosseltern mit einer unermüdlich anpackenden Präsenz. Für mich sind sie mehr als nur Verwandte. Mit ihrer Achtsamkeit, Grossherzigkeit und Unternehmungslust sind sie mir in wertvoller Freundschaft verbunden. Theres und Hans unterstützen mich heute noch mit ihren kulinarischen, haushalterischen und technischen Talenten. In all diesen Jahrzehnten haben sie Wesentliches für unser verwandtschaftlich wohlwollendes, freundliches Klima unter acht Geschwister-Familien beigetragen. Herzliche Gratulation und Vergelts Gott!    

 

 

Mai 2024

 

Am Walensee erlebe ich beim Biken einen Wetterumschwung. In Vilters bläst stark der Föhn. Franziska, Yara und Kornel begleiten mich der Seez entlang. Hier sind wir nur zwanzig Kilometer von Vilters weg. Überraschenderweise ist es erst mal praktisch windstill und warm, wo wir Gegenwind erwarten. Dann treibt uns der Rückenwind wieder flott Richtung Walenstadt. Zwei Rollerbladerkinder spannen ihre Regenschirme als Windsegel aus und werden gezogen. Bei Flums wird es augenblicklich kalt und wir trampen im Gegenwind.

 

An drei österreichischen Tankstellen und drei Zollstellen versuche ich, mein Go-Gerät für die österreichische Autobahn loszuwerden. Zuvor habe ich eine Busse von dreihundertfünfzig Euro eingefahren. Unverschuldet, weil ich an der tschechisch-österreichischen Grenze nicht korrekt informiert worden bin und das Zollamt von Salzburg geschlampt hat. Ich wurde nie auf mein Vergehen aufmerksam gemacht und nie gewarnt. Einen Beweis gegen das Amt zu führen ist praktisch aussichtslos. Nach einem Monat habe ich immer noch keine Antwort auf meine e-mail. Eine wie mir schien kompetente Tankstellenwärterin versichert mir, ich könne jetzt kostenfrei durch den Pfändertunnel fahren. Als ich nach dem Pfändertunnel beim Zollamt anhalte, um mich über die dreihundertfünfzig Euro Busse zu informieren, sagt der Beamte, weil Sie hier angehalten haben, bekommen Sie jetzt keine Busse, aber das Tunnelgeld von 5.66 Euro müssen Sie hier bezahlen. Kostenfrei gilt nur für Personenwagen. Meine Antwort: «Ich werde euer Land nie wieder befahren. Ich habe Angst vor euch und euren Fallen. Nie wieder!» (30.4.24)

 

Ein strenger Tag heute. Nach den Bussgeschichten am Zoll versuche ich in Ulm auf den Stellplatz zu gelangen. Baustellenchaos. An einer Stelle ist gerade mal eine Breite von zwei Meter zehn angegeben. Mein Womo reisst sich zusammen und schafft die Stelle ohne Kratzer mit seinen zwei Meter dreissig. Die Warnschilder bleiben stehen. Staunende PKW-Fahrer vor und hinter mir. Mich beschäftig nur ein Schweissausbruch.

 

Den Stellplatz P2 vor dem Eingangstor bei Rothenburg ob der Tauber liebe ich. Er ist unkompliziert anzufahren, sehr gross und womofreundlich. Das hübsche mittelalterlich anmutende Städtchen liebe ich auch. Darum fahre ich es immer wieder an.

 

Nach sieben Jahren treffen wir Asien- und Seidenstrassenreisende uns auf dem Weingut Hemberger bei Rödelsee. So viel Herzlichkeit und Wiedersehensfreude kann man von einer Reisegruppe, auch wenn sie ein halbes Jahr lang miteinander unterwegs war, nicht erwarten. Selbst das Wetter spürt unsere Freude und lacht und strahlt freundlich mit. Wir sind immerhin eine zusammengewürfelte Schicksalsgemeinschaft von 28 Personen. Beim Abendessen in der Kneipe in Iphofen geht es schon entspannt laut und fröhlich zu und her. Nach einer interessanten kurzen Stadtbesichtigung in Iphofen steigert sich das Wohlbefinden und das Zusammenfinden bei der familiären Weindegustation auf dem Weingut Hemberger in Rödelsee und findet ihren Höhepunkt beim Abendessen im Löwenhof. Eine bunte, einander wohlmögende Bande.

 

Am Sonntag (5.5.24) lösen wir unser Treffen wieder auf und verteilen uns mit Wein im Gepäck in alle Himmelsrichtungen.

 

Roger fährt an Auffahrt (9.-12. Mai 24) mit mir nach Taizé im Burgund (Nähe Macon, Cluny, Tournus). Unsere Ankunft versäuft vehement auf einer durchfurchten, regennassen Wiese. Mit kurzen Holzbrettchen und Gummimatten arbeiten wir uns Zentimeter für Zentimeter in sieben Anläufen rückwärts raus. Rolf, ein deutscher Teilnehmer am Treffen, bringt uns zwei Sechzigzentimeter lange Rippelplastikmatten. Hier greifen unsere morastig verschmierten Räder besser. Das ist der erste Vorfall seit dreizehn Jahren, wo ich die Differenzialsperre gegen das einseitige Durchdrehen der Räder gebraucht hätte. Aber diese Einrichtung haben wir nach dem zweiten Totaldefekt im August 2019 abgehängt und nicht mehr repariert.

 

Man sagt, etwa zwei- bis dreitausend Jugendliche und junge Erwachsene halten sich derzeit auf dem Hügel in Taizé auf. Jedenfalls ist die Versöhnungskirche drei Mal am Tag mitsamt den dreifach angebauten Barracken voll.

 

Eigentlich bin ich hier in Taizé, um für diese Kraftquelle für meine persönliche und berufliche «spirituelle Prägung» zu danken. Während des Freitagmorgengebetes bricht dieser Dank in Tränen der Rührung und des Glücks aus mir heraus. Tausende Jugendliche und junge Erwachsene nehmen am Teilen des eucharistischen Brotes teil. Selbstverständlich teil. Wieviel tausend Menschen habe ich in meinem fünfzigjährigen Berufsleben wohl dieses Heilige Brot gereicht? Selbstverständlich gereicht. Denn «Gott ist nur Liebe, wagt für die Liebe alles zu geben. Gott ist nur Liebe, gebt euch ohne Furcht». 

Bedrückend, wie vielen Menschen die Katholische Kirche im Laufe ihrer Geschichte dieses Heilige Brot verweigert hat mit dem Vermerk «Sünderin (an erster Stelle), Sünder» oder «falsche Konfession, falsche Religion». Diese Begegnung mit Jesus im Zeichen des Brotes, der sich allen Menschen auf alle Fälle mit der uneingeschränkten Liebe anbieten will, wurde ihnen wegen der fehlenden oder «verletzten Gemeinschaft» verweigert und das nachhaltig.    

 

In der alten Romanischen Kirche von Taizé bin ich Gefühlsdusel nochmals zu Tränen gerührt. Hier begann Frère Roger Schutz (*1915) aus Lausanne seine Niederlassung mit wenigen Brüdern (1944). Er teilte sein Leben nach dem ersten Weltkrieg mit seinen Brüdern, Waisenkindern und den Bewohnern des Dorfes als einfacher Christ. Aus diesem selbstverständlich christlichen Meditieren und Teilen vervielfältigte sich dieses Zeichen in abertausenden von Menschen, die hier eine Quelle der Einfachheit und der Zuwendung zu Gott und den Menschen gefunden haben.

 

Mich rührt heute, dass ich diesen Ort Dank einer Einladung meines Mitstudenten Reto Müller aus Zürich an Pfingsten 1970 habe kennenlernen dürfen. Seither ist dieses «ökumenische Kloster» durch meine viele Besuche mit Jugend- und Erwachsenengruppen aus der Schweiz zur Quelle der Vertiefung meines eigenen Lebens geworden. Auch meine vielen Besuche und Freundschaften in der DDR seit 1975 finden hier und Dank Reto ihren Ursprung.

 

Frère Roger Schutz wurde am 16. August 2005 während eines Abendgottesdienstes von einer geisteskranken Frau mit einem Messer niedergestochen. Sie wollte ihn angeblich vor Verschwörungen bewahren! Radikale, endgültige Methode! Was für ein schockierender Irrsinn: Frère Roger, der die wahre Liebe gelebt und umgesetzt hat, wird während er sich im Gebet mit Gott verbindet, ermordet. Was für ein noch grösserer Irrsinn: Millionen Menschen werden von vermeintlich «klar denkenden Menschen», die sich heftigst dagegen wehren als geistesgestört bezeichnet zu werden, ermordet.

Roger und ich sind sehr beeindruckt, wie viel Kraft von den Gesängen und der Stille in den Gottesdiensten ausgeht. Roger setzte sich als kleiner Junge in der Kirche Halden selbstverständlich an meine Seite und las den GottesdienstbesucherInnen vor, was immer ich ihm in die Hand drückte. Schön für mich: Roger sitzt auch jetzt in Taizé bei meinen Gefühlsausbrüchen des Dankes neben mir. Danke, mein Freund.  

 

Nach dem Tod von frère Roger Schutz im August 2005 war frère Alois während achtzehn Jahren der zweite Prior der Communauté bis am 23. Dezember 2023. Seither ist frère Matthiew der dritte Prior der Brüdergemeinschaft. Alles lebt im Geiste von frère Roger seit der Gründung im Jahre 1944 mit aller Kraft weiter.

 

Helen Giger legt mir in der Warteschlange zum Essen ihre Hand von hinten auf die Schulter und sagt: «Ich habe dich an der Stimme erkannt. Du bist Lorenz. Du hast mich im Jahr 1988 mit Markus verheiratet. Was für eine schöne Begegnung!». Ihre Kinder sind nun aus dem Haus. Helen und Markus haben aber fünf Flüchtlingskinder bei sich zu Hause aufgenommen!

 

Mit Michael Weber komme ich beim Lunch ins Gespräch. Er hat zusammen mit seiner Frau vor vierzehn Jahren das Taizégebet im Kloster Grimmenstein bei Walzenhausen ins Leben gerufen. Wir beide kennen meinen Hausarzt Luzius Knöpfli und den Synodalen Adrian Keller.  Sehr verbunden tauschen wir whatsapp aus.

 

Aimar rufe ich in Lilleoru in Estland an, um ihm mitzuteilen, das grosse Taizétreffen an Weihnachten24/Neujahr25 wird in Tallinn, seiner Hauptstadt stattfinden. Taizé wagt diesen Friedensschritt extra, weil die Esten, Letten und Litauer fürchten, die nächsten Opfer von «Putins Operation» zu werden. Aimar ist hörbar gerührt, meine Stimme aus Taizé zu vernehmen, wo er einst ein halbes Jahr lang als Volunteer mitgearbeitet hat.

Taizé ist nur zirka 460 km von St. Gallen entfernt. Auf der Autobahn über Basel brauchen wir sechs Stunden, auf dem Landweg über Pontarlier acht Stunden.  

 

Die Rückfahrkamera am Womo funktioniert nach drei Tagen Streik glücklicherweise wieder. Nur die Klimaanlage muss bei Fürk AG ausgelesen und mit Gas angereichert werden. Dies die Womomängel des Monats.

 

Bist du als Pensionierter noch Seelsorger werde ich öfter gefragt. Und wie! Heute quatscht mich hinter meinem Womo ein wildfremder Mann an: «Ich bin auch ein Fahrender, seit acht Jahren». Dann zeigt er mir sein mit Hab und Gut und Überbleibsel vollgestopftes Auto. «Da drin lebe ich im Sommer und Winter». Dann erzählt er mir seine Leidensgeschichte. Seine Frau habe ihn mittellos auf die Strasse gestellt und ihn um sein ganzes bisheriges Vermögen betrogen. Keine Behörde helfe ihm. Nach acht Jahren sprüht er noch Gift und Galle. Er will nichts anderes als sein Leid klagen. Verzeihen komme niemals in Frage. Ich bemitleide ihn nicht. Ich zwinge ihn mit meinen spärlich eingestreuten Rückfragen nur über die ganze Wirklichkeit nachzudenken, ob er nicht auch etwas Gutes, Schönes zu erzählen habe, ob er sich an gar nichts im Leben mehr freue, ob er sich an diesem Elend, das ihm angetan wurde, für alle Zeit festbeissen will, um nicht die ganze Wirklichkeit zu sehen. Das hilft ihm bei seinen Suizidgedanken mehr Boden zu gewinnen. Am Ende des fast zweistündigen Monologes sagt er: «Jetzt habe ich doch jemanden gefunden, der mir nach meinem Ende eine Kerze anzünden wird.»

 

Über die Pfingsttage habe ich drei für mich seltsame Begegnungen. Die Sache Respekt, über die ich an meinem 50 Jahre Priesterjubiläum geredet habe, holt mich auf eindrückliche Weise ein. Es sind virtuelle Begegnungen mit Menschen, zu denen ich bisher keinen Bezug habe, die mir aber über youtube näher gebracht werden und denen ich wider Erwarten grossen Respekt entgegenbringe. Der Auslöser ist der Eurovisionscontest, den ich selber nicht gesehen habe. Ich habe mich ja in Taizé aufgehalten. Gewonnen hat Nemo aus der Schweiz, kriege ich mit. Was zum Teufel ist nur in dieser Welt los? Diese extravagante Erscheinung Nemo spricht ganz Europa an. Was geht da ab? Bin ich noch von dieser Welt? Was beschäftigt Millionen von Menschen in Europa? Diese Frage beunruhigt mich und gehe ihr in Videobeiträgen etwas nach.

 

Nemo bricht den «Code». Den Code, dass ich nur männlich oder weiblich über Menschen denke, dass ich nur zwei Schubladen habe, in die ich sie stecke. Selbst Schwule und Lesben passen da rein. In Videobeiträgen höre ich Nemo zu. Ich bin total überrascht, wie reif und überlegt, wie sachlich und verständlich Nemo die Situation erklärt. Ich höre zu. Das ist die Grundvoraussetzung für jede Begegnung. Ich beginne meine Verweigerung der Erscheinung «Nemo auf der Bühne» durch Achtsamkeit seinen Worten gegenüber mit Respekt zu vertauschen. Das verwirrende Bühnenäussere wirkt auf mich nicht mehr so schrill, je mehr ich Nemo verstehen lerne. Ich glaube Nemo durch die Hölle und zurück gegangen zu sein, um den Code zu brechen. Die Forderung, Nemo nicht bloss zu tolerieren, sondern zu akzeptieren, kann ich immer mehr erfüllen.

 

Da zappe ich in der zweiten youtube-Begegnung auch noch über Österreichs «Conchita Wurst», diesen Tom mit Bart in Frauenkleidern. Genug davon! Im selben Augenblick wird mir virtuell ein Video angeboten, in dem Conchita «normal angezogen» im Interview erscheint. Ach was, das ist Conchita? Ich muss hinhören, hinsehen, wer diese Conchita ist. In diesem schwarzen Anzug erleichtert «sie» mir den Zugang, gewinnt sogar mein Interesse zuzuhören. Authentisch erzählt «conchita» (Tom) aus seinem Leben als Junge von Wirtsleuten in einem konservativen Dorf. Wie er erst die Mädchenkleider ausprobiert hat. Wie er bei der Erstkommunion enttäuscht und verärgert war, nicht in einem so hübschen Mädchengewand zu stecken wie das Mädchen neben ihm. Heimlich und zärtlich berührt er das schneeweise Gewand des Mädchens neben ihm, wie auf einem Foto zu sehen ist. Wie er in der Pubertät damit gerungen hat, sein zweites Leben und Fühlen zu entwerfen und doch geheim zu halten, was ihm nicht völlig gelungen ist und ausgegrenzt wurde. Mich berührt, mit welcher Kraft und Geradlinigkeit Conchita ihren Weg gegen alle Widerstände gegangen ist. Mich berührt auch, wie ich diesen wertvollen Menschen bloss wegen seiner Erscheinung in den Kübel des «no go» geschmissen hatte. Conchita/Tom verlangt von mir nichts anderes, als wenn er/sie mich in meiner Freiheit nicht einschränkt, ihn/sie doch so zu akzeptieren, wie er/sie ist. Herrgott nochmal, ist das zu viel verlangt? Diese Lebensgeschichte, die Ehrlichkeit, Reife und Weisheit dieser Person verlangt von mir allen Respekt.

 

Magst du noch über meine dritte Pfingstbegegnung lesen? Sie findet ebenfalls virtuell über youtube statt. Ist weit harmloser als die Geschichte mit Nemo und Conchita Wurst, aber lange zuvor der Ruf nach Akzeptanz und der Bruch mit der heimtückisch einschränkenden Frage, was denken die Menschen über uns?

 

In meinen Kreisen wurde die Kelly-Family in ihren frühen Jahren belächelt. Ich habe mir darum nie die Zeit genommen, mich mit dieser freiheitsverrückten Bande auseinander zu setzen. Jetzt lockt mich youtube auf ein Interview mit Angelo, dem Jüngsten der Kelly-Family. Hei, was entdecke ich da für einen reifen, ausgeglichenen jungen Vater in Irland, mit so tollen Aussagen zum Sinn des Lebens und des Zusammenlebens. Auch sein Bruder Michael Patrick, der mal als Wirtschaftsminister in der Family gewirkt hat und dann - so echt - sechs Jahre lang in einem Kloster nach mehr Sinn und Reife gesucht und gefunden hat, überzeugt mich mit seinen Aussagen. Wegen immer häufiger Krankheiten haben ihm die Mönche nahegelegt, aus dem Kloster wieder auszutreten und Musik zu machen. Das tat er. Er heiratete seine Jugendliebe und lebt glücklich und weise als Musiker und Songwriter. Ich entdecke in diesen Aussagen derart wertvolle Menschen. Sie sind einen ausserordentlichen Weg gegangen und haben zu sich, zu der Welt und zu Gott gefunden.     

 

Ich beginne durch diese Videobeiträge und mit meiner Auseinandersetzung die Welt aktuell um mich herum etwas zu verstehen. Das übertriebene Erscheinungsbild einzelner Individuen rüttelt mich auf. Mit der Akzeptanz und der Unversehrtheit der Menschenwürde ist es auch in mir, in der demokratischen Schweiz, im vereinten Europa noch nicht zum Besten bestellt. Durch mein abweisendes Verhalten: «Das ist doch nicht normal» oder «Du bist doch nicht normal», trage ich unglaublich viel zum gesellschaftlichen Druck bei, unter dem «nicht Normale» leiden. Was ich bisher übersehen und ausgerechnet über Pfingsten, dem Fest des guten Geistes entdeckt habe, ist keine gewaltbereite, sondern eine künstlerisch, musikalisch, eventmässige, kulturelle Revolution, die unsere Welt verändert, ob ich es mag oder nicht.

Übrigens bringen solche Revolutionen Diktatoren und Diktaturen zum Schwitzen. «Noch mehr Demokratie? noch mehr Verständnis? noch mehr Akzeptanz? Wo führt das hin, wenn jeder tut, was er will», heisst die hilflose Abwehr, die ich mit niemandem teile.

 

 

«So sollte es in der Kirche immer sein», höre ich oft. Die Leute lachen und fühlen sich zu Hause. Meine Gedanken, mein Vilterser Dialekt sprechen sie an. Die JodlerInnen laufen zur Hochform auf. Der Festgottesdienst zum 50 Jahrjubiläum des Jodler Klub Pizol Vilters spricht mich und alle an. So aufstellend wirkt Festfreude, wenn man sie entlockt und zulässt. Schon fast überschwänglich wird mir von allen Seiten her für den festlich-fröhlichen und zugleich tiefgründigen Gottesdienst gedankt. Was in der Kirche beginnt, wird in der Mehrzweckhalle festlich fortgesetzt. Mehrere Jodler Klubs tragen dazu bei.  

 

2024  Juni

 

Meine Italienfahrt beginnt am 3. Juni 24 mit der Fahrt nach Rotkreuz. Theres schickt Hans und mich in den Tessin. Sie bleibt zu Hause. Die Wetterprognosen sind etwas zweifelhaft. Trotzdem.

In Quinto (4.6.24) unterbrechen wir die Fahrt nach dem Gotthardtunnel in den Tessin. Wir biken zum Ritom See (1855m) und weit hinter den See bis Altschnee uns den Weg versperrt. Eine lohnenswerte Unterbrechung zu den Alpenfrühlingsblumen. Im Camp Miralago in Tenero bekommen wir problemlos einen Platz. 

 

Das Wetter ist dauernd besser als sein Ruf. Wir biken über Vira zur Alpe di Neggia (5.6.24 auf 1394m).

 

Ziel ist heute Naccio über Ascona/Brisago (6.6.24). Bei 1103m werden wir durch ein Stahltor ausgebremst. Davor gibt es weiträumig Wander-Parkplätze. Schluss. Selbst Fahrräder bleiben stehen. Wir fügen uns. Die dritte Tagesleistung in Folge genügt uns eh.

 

Unser Camp Miralago heisst Hundeliebhaber oder auch nur Hundebesitzer willkommen. Das ganze Areal ist voll davon. Fast vor jedem Womo sucht ein Vierbeiner sein Plätzchen im Schatten. Ich werde sogar verwundert gefragt: «Sind Sie ganz allein. Kein Hündchen?» 

 

Am Freitag um 8.30 verlassen wir das Camp und fahren bis Lavorgo. Bikes ausladen und ab über Chironico – Gribbio – Übergang 1431m - Dalpe – Lavorgo. Weil wir am Mittag schon wieder zurück sind, fahren wir bei immer noch sonnigem Wetter über den Gotthardpass. Riesige Schneemassen liegen oben und türmen sich in den Verwehungen am Strassenrand. Die Tremola wird noch lange unpassierbar sein.  Theres erwartet uns in Rotkreuz.

 

Diane und Beat (mein Patenjunge) laden uns zum Grillen am 8.6.24 in Merlischachen ein. Da wir sieben weintrinkende Personen sind, kommt uns das 50 Jahr-Priester-Jubiläums-Geschenk aus der Weinkellerei vom Fürsten von Lichtenstein aus einem Gutbesitz in Niederösterreich gerade Recht. Herzlichen Dank nach Balzers! Dieser Grillabend ist für mich auch Abschiedsabend. Am Sonntag mache ich mich auf den Weg nach Italien. Wohin? Wie weit? Oder bleibe ich noch im Tessin? Alles offen!

 

Bei Tenero (9.6.24) spüre ich eine leichte, zurückhaltende Unsicherheit, die Grenze heute schon zu passieren. Lächerlich! Ich gebe mir einen Ruck und das GPS schreibt Novara. Die Fahrt über Cannobio dem Lagomaggiore entlang ist für ein 230x850x335cm Wohnmobil eine kleine Herausforderung. Die meistere ich ohne Kratzer.

 

Nach Verbania (Fondotoce, International WomoPark) mache ich eine zweistündige Pause, um mich in das Thema Piemont einzulesen und einige GPS-Daten umzurechnen. Schliesslich parke ich auf dem überdimensionalen Parkplatz vor dem überdimensionalen The Style Outlet in Vicolungo. Das Gratisübernachten und Stehenlassen des Womos sei kein Problem. Diese Grosszügigkeit belohne ich mit einem Kleidereinkauf von Sommerhemden und kurzen Hosen. Um 18.40 kriegt das Womo eine herrliche Himmelsdusche inclusive Saharastaub. Wie schön, das Prasseln auf dem Dach zuhören und nicht weiter zu ziehen.

 

Südlich besuche ich die mittelalterliche Reis-Hauptstadt des Piemont, Vercelli per bike. Die teils hübschen, engen Gässchen mit strikten Einbahnen kreuz und quer sind sogar für das Velo ein Hindernis. Weil am Montag über Mittag alles geschlossen steht, verpasse ich den Einkauf von Risotto-Reis. Lieblich sind die weiten, teils schon unter Wasser stehenden Reisfelder anzusehen. Unzählige Reiher waten darin.

 

Casale Monferrato liegt am Po, der sich hier schon recht breit macht. Sowohl in Vercelli wie in Casale vermisse ich hübsche Strassenrestaurants. Kein dolce vita!

Abgesehen von unzähligen Bauruinen vergangener Industrie wirkt das Reisfeldgebiet ruhig und hübsch. Wirklich überblicken kann man die Felder nur von erhöhten Strassenübergängen aus, wo ich am Steuer leider nicht fotografieren kann. 

  

Für die Strassenschäden ins Hügelland Richtung Moncalvo - Asti sind auf zehn Kilometer hunderte passende Schilder für verschiedene Lochgrössen, Risse, Buckel und Wellen angebracht. Sehr gut ausgeschildert, nur flicken tun sie die Regionalstrassen nicht.

Asti trinken am Mittag geht schon! Die Stadt ist aber nicht so fein wie der Asti. Weiter nach Alba. Hier lädt ein riesengrosser Parkplatz zum Verweilen ein. Wie oft vor den kleinen Städten sind sie kostenfrei.

 

In Vercelli hat der (Risotto-) Reis seinen Namen. In Asti der Spumante. In Alba der Trüffel. In Barolo der Barolo-Wein. Diese Ortschaften liegen zudem nahe beieinander. Ein Gourmet-Paradies in diesem Piemont.

 

Von Alba bike ich nach Vergne und zurück. Peter Z verrät und empfiehlt mir dieses Camp auf dem Hügel. Traumhaft von der Lage auf dem Hügelkamm über den Rebenhängen. Am Mittag bin ich samt Womo auf dem Camping Sole Langhe eingecheckt (12.6.24).

 

In La Morra (4km) überrascht mich ein Gewitter. Ein Dach für kurze Zeit genügt und der Spuck ist vorbei.

 

48 Kilometer bike ich mit Auf und Ab`s von Vergne nach Monforte d`Alba – Serralunga d`Alba – La Morra – Vergne (13.6.24). Was soll ich sagen: «Ein Tal wie das Andere und kein Tal wie das Andere.»

 

Vor allem in den Talebenen finden sich Haselnussplantagen. Das beobachte ich auch von Vergne – über Novello – Monchiero – Dogliani – Monforte d`Alba – Barolo – Vergne (38km 14.6.24).

 

Heute ist Sonntag. Ich bike von Vergne über La Morra nach Verduno und Roddi (28km 16.6.24). Ein paar Motorräder sind immer unterwegs. Plötzlich staune ich und zähle dreiundzwanzig Fahrzeuge hintereinander. Eine Wucht! Eine Viertelstunde später steige ich vom Bike runter. Es sind mindestens achtzig Motorräder, die mir entgegenkommen. Ich beginne sie mit meinem Handy zu filmen. Die Freizeitreiter winken und hupen mir zu. Die Kolonne will nicht aufhören.

 

In Roddi besuche ich den Gottesdienst. Der alte, offenbar gebrechliche Pfarrer predigt sitzend hinter dem Altar. Es lugt gerade mal sein Kopf hervor. Nach viel Geduld beginnen ältere Herren Gottesdienstbesucher miteinander zu tuscheln und einander Zeichen zu geben: «Der soll mal aufhören». Das Mundwerk des Pfarrers läuft weiter und seine Stimme ist noch kräftig. Ich überlege mir, ihm den Tipp zu geben, beim Predigen stehen zu bleiben und nur so lange zu predigen, wie er stehen kann. Er wäre in seinem hohen Alter und Verfassung augenblicklich ein beliebter Prediger.

 

Hitzetag. Ich benutze die Kleider-Waschgelegenheit im Camp. Am Nachmittag fahre ich über La Motta -  Verduno – Roddi nach Alba, um mir eine stabile Halterung für meine Handy als GPS auf den Bikelenker zu montieren. Gleich anfangs Stadt lese ich Ciclo-Vermietung. Volltreffer. Nach 42 Kilometern bin ich zufrieden mit dem Einkauf zurück in Vergne (18.6.24).

 

Neun Tage bin ich von Dorf zu Dorf herum gebiked. Nun haben Regentage eingesetzt. Darum fahre ich mal nach Saluzzo, in eine kleine Stadt, noch immer im Piemont (21.6.24). Der Regen hört auf. Ich durchpirsche alle hübschen Gässchen und beschalle nach Lust und Laune Kirchen der Altstadt.

 

Das Zisterzienserkloster Staffarda wurde am 25. Juli 1135 vom ersten Markgrafen von Saluzzo gegründet. Zur Blütezeit wurden im Kloster Märkte abgehalten und das Kloster konnte Geld verleihen. Vier Jahrhunderte später lebten nur noch wenige Mönche dort. Man hätte Reformen verpasst, erklären Historiker. In der Schlacht bei Staffarda wurden um 1690 die Klostergebäude durch Savoyer stark zerstört.

 

Regelmässige Klostergäste in Staffarda sind heute eintausendzweihundert  Zweifarbenfledermausweibchen, die hier gebären und auch ihre Mädchen kommen jeweils nach einem Jahr zu ihrem Geburtsort zurück, um ebenfalls  hier zu gebären.

Der Weg von Saluzzo über die Autobahn bis Savona ist kurz. Es regnet und regnet. Der Stellplatz für Wohnmobile in Savona ist mit Marktfahrenden überfüllt. Die Umfahrungsautobahn von Turin bis Pisa ist für mich nicht attraktiv. Nur Tunnels und Brücken.

 

Jetzt geht die Suche los! Die Wegverhältnisse an der Ligurischen Küste sind sehr eng, die Strässchen in den Dörfern und Städten noch enger.

 

In Genua drohen unvermittelt Höhenbeschränkungen von 3.20m und 2.20m. Ich bräuchte 3.30m. Plötzlich erscheinen Gewichtsbeschränkungen auf 2.5 Tonnen. Mein Womo ist aber auf 6.7 Tonnen zugelassen. Dieselben Warnungen in La Spezia kurz vor dem Gehtnichtmehr! In Genua gerate ich auf einem Hafengelände in eine Sackgasse. Ich muss rückwärts um eine rechtwinklige Häuserecke beparkt mit Autos und Motorfahrräder wieder raus. Auf mein Pannenblinken nehmen die Autos Rücksicht.

Andere Campings liegen in den Bergen, wo ich immer steiler rauffahren muss um zu wenden. Alle diese Campings sind offiziell ausgeschildert. Für mich jedoch ein Nogo!

Mein erfolgloses Suchen geht im Fahren weiter, bis ich um sechzehn Uhr nach dreihundertsechzig aufwändigen Kilometern und vielen Hindernissen auf einer Autobahnraststätte (Autogrill Versilia Ovest 24.6.24) bereits vierzig Kilometer vor Pisa einen Nothalt einlege.

 

Bisher war ich auch der Meinung: «Mit einem Wohnmobil kann man anhalten und die Nacht verbringen, wo man will.» Heute habe ich in diesem Wohndickicht am Ligurischen Meer eine neue Lektion gelernt. Es gibt überbesiedelte Gebiete, wo gar nichts mehr geht! Um jeden Quadratmeter wird gekämpft.

 

Bei meinen vielen Wechseln auf die Autobahn und wieder runter freut mich Eines sehr. Ich habe mir für einige Staaten in Europa ein Telebox-Gerät angeschafft. Damit piepse ich bei Mautstellen auf der freien Bahn an allen Wartenden vorbei. Mein Womo wird während der Fahrt für mich mit einem hörbaren Piepsen registriert. Kein Bargeld klauben, kein Kärtchen lesen, keine Warteschlange: einfach durch! Die Rechnung erfolgt am Ende des Monats. So bequem und kosten tut`s so oder so.

 

Dreizehn Fahrradkilometer stehe ich auf dem Stellplatz Marina di Pisa bei der Mündung des Arno ins Meer vom schiefen Turm entfernt.

 

Möchte aber erst den Hafen von Livorno sehen (25.6.24). Vierzig Kilometer Bike hin und zurück. Ich staune, wie ich mich dann und wann zu einer kleinen Velotour animieren kann. Das Training entschädigt dann auch für einen Blick auf einen unschönen Industriehafen.

 

Der schiefe Turm von Pisa wiegt etwa vierzehntausendsiebenhundert Tonnen Marmor aus Carrara. Der Grundstein für diesen Kirchenturm wurde am 9. August 1173 gelegt. Was für eine Sensation damals: ein runder Kirchenturm mit ich weiss nicht wie vielen Etagen. Heute sind sechs mit rundherum je dreissig Säulen. Er hätte hundert Meter hoch werden sollen. Geworden ist er mit Glockenetage 55.8 Meter hoch. Schon zwölf Jahre nach Baubeginn wurde im Stumpf eine Neigung festgestellt und der Weiterbau verzögert. Im Jahre 1372 war das Glockengeschoss fertig. Wirft man heute ein Bleilot runter, steht die Sohle des Turmes auf der Südseite 3,9 Meter zurück.

 

In den 1990er Jahren wurde Alarm geschlagen. Man versuchte einen Schieflagestopp oder gar eine Rückbewegung zu gewinnen. Auf der Rückseite wurden dem Turm erst mal 600 Tonnen Blei auf den Fuss gestellt. Später noch ein Versuch mit 900 Tonnen. Das war unschön anzuschauen und half wenig. Die Lösung war, ebenfalls auf der Nordseite schräge Löcher zu bohren und zirka 50 m3 Sand und Geröll zu entfernen. Da regte sich der Turm und verlor an Schieflage. Er richtete sich von 5,5 Grad Neigung wieder zu 4 Grad Neigung auf. 2001 wurde er den Touristen zur Besteigung wieder freigegeben und tausende Fotos täglich bringen den Berühmten nicht zu Fall (26.6.24). 

 

 

Ein älteres Ehepaar bittet um Erlaubnis, sich auf die steinerne Bank neben mich zu setzen, wo ich den kühlenden Schatten unter mächtigen Bäumen im Kirchplatz von S. Paolo geniesse. Er erzählt mir eine Menge von seinen Ferienerlebnissen, stellt mir aber auch Fragen. Eine angenehme Unterhaltung. Seine Frau nebenan sei verwirrt, gibt er mir zu verstehen. Er redet und redet. Sie schweigt und schweigt. Wie ein Glück zu Zweit ausgehen kann, macht mich nachdenklich. Nachdenklich über meine unbekümmerte Freiheit. (28.6.24)

 

2024  JULI

 

Die Wegwarte mit seinem hellen Blau und seiner Genügsamkeit am Wegrand ist eine meiner Lieblingsblumen. Zwischen Livorno und Cecina sind die Felder wie die Wegränder dermassen abgekämpft, dass die Wegwarten sich über die Dürren ausbreiten.

 

Kaum bin ich in Marina di Pisa losgefahren, erreicht mein Womo die 330`000km Marke. Von Grenze will da keine Rede sein.

 

Ich verzichte auf eine Waschmaschine in Marina di Bibbona und zweige nach Volterra ab. Zweihundertfünfzig Stufen sind es vom Stellplatz bis in die Altstadt. Wenn ich aus den engen, zum Durchschlendern hübschen Häusergassen der Altstadt hinausfinde, erfasst mich der leichte Wind an den Aussichtsorten dieser hoch über den Hängen gelegenen Stadt. Eine Wohltat bei dreissig Grad.

 

Die Etruskische Akropolis und das römische Amphitheater in Volterra sind heute noch fassbare Zeichen einer fast dreitausend Jahre zurückliegenden Geschichte. Ich vertiefe mich im Etrusker-Museum gern in ihre Lebensart und -weise. Alle Interpretationen in dieses erloschene Volk stammt aus Funden in Grabhügeln und von Schilderungen römischer Schriftsteller. Faszinierender Rückblick in vergangene Zeiten (2.7.24) in der die Etruskische Aristokratie sehr geniesserisch reich und mehr auf Reichtum aus war, als auf Krieg, was sie nicht abhielt, die Handelswege als Piraten zu überfallen. 

      

Tag der Ablehnung und der schlechten Nachrichten (3.7.24): Drei Mal werde ich in Volterra beim Spital und medizinischen Einrichtungen abgelehnt. Ich bräuchte jemand, der/die mir eine mitgebrachte Spritze gegen Osteoporose in die Vene setzt. In Norwegen und Berlin war das möglich. In Italien nicht erlaubt. Wie sauber die doch arbeiten!

 

Ein Freund teilt mir mit, seine Mama sei gefallen und hätte sich ihren Arm ausgerenkt und gebrochen. Sein Bruder habe sie in die Notaufnahme befördert. Jetzt sei sie mit einer Schiene bereits wieder zu Hause. Wie das? Sie lebt allein in einer Wohnung.

 

Der Stellplatz vor San Gimignano ist geschlossen und verwahrlost. Auf dem nächsten Stellplatz werden Festplätze mit Zelten und Tribünen aufgebaut. Und sowieso: Parken verboten. Auf dem Dritten in Località S. Lucia klappts.

 

Schon kurios, diese hohen Türme, deren es im zwölften Jahrhundert in San Gimignano 72 gab. Heute noch dreizehn. Diese Geschlechtertürme repräsentierten den Wohlstand der Adeligen. Je höher, desto… Sie waren unbewohnt und nur bei Streit unter den Geschlechtern als Wehrtürme betreten, zum Teil beklettert. Es gab im Innern Treppen und Leitern, die hochgezogen werden konnten. Sie sassen dann im eignen Turm gefangen da. Gelagert wurden in oberen Stockwerken Waffen und zu Fehdezeiten auch Essensvorräte.

 

Weitere solche Städte in Italien mit erheblich vielen Geschlechtertürmen waren Bologna +180, Perugia +50, Florenz +200, Lucca +250, Pavia +50, Siena und weitere. Weil die Geschlechtertürme unbewohnbar und nur zum Protzen von Patriziern und wohlhabenden Kaufleuten erbaut wurden, allenfalls als bescheidener Verteidigungsturm – es fanden darin nur wenige Menschen ohne Luxus Platz – war das der Auswuchs an Statussymbolik und mit heutigen Luxusgütern, Protzware (Villen, Jachten, Flugzeuge, Luxuscarossen etc) vergleichbar.

 

In der Innenstadt von San Gimignano sehe ich Arbeiter von Misericordie sitzen (3.7.24). Ich gehe wegen meines Spritzenproblems auf sie zu. Nach anfänglichem Kopfschütteln telefoniert einer in der Gegend herum. Unvermittelt steht eine hübsche Frau vor mir: «Was wollen Sie?». Nach meiner Erklärung sagt sie: «Wie lange dauert das? (fünf Minuten). Kommen Sie morgen um 8.45 (das ist noch vor Türöffnung) bei mir vorbei. Ich setze Ihnen die Spritze». Hei, was für eine Hilfsbereitschaft von Misericordie und Frau Dr. Greta. Damit habe ich nicht mehr gerechnet.

 

Es klappt mit Frau Dr. Greta wie abgemacht. Für ihren Dienst will sie nichts. Es gibt dafür ja kein Formular. Sie staunt, warum Andere in Volterra und San Gimignano das nicht gemacht hätten. (4.7.24). Frau Dr. Greta geht nicht leer aus.

 

Es lohnt sich am Abend nochmals aufs Bike zu hocken und in die Altstadt zu fahren. Vor der «Gelateria Dondoli» stehen am Tag bis zu hundert Personen Schlange. Am Abend kann ich das wirklich köstliche Eis ohne anzustehen bekommen und geniessen. So crèmig leicht!

 

Es gibt so Vieles zu sehen. Ich komme gefühlsmässig unter Druck, nur herumzuliegen, zu lesen und zu schlafen. Das geht doch nicht! Bei solch schlechten Gefühlen muss ich mich vom Eroberungsdruck befreien und mir sagen: «In der Schweiz würdest du auch tagelang nur herumliegen.» Das hilft, auch mal einen Tag Ferien zu machen und vor Ort zu bleiben, während eine innere Stimme drängelt: «Weiter, weiter! Was denken deine Leserinnen und Leser, wenn du dich nicht bewegst und nicht täglich was Neues kommt! »

 

An den mächtigen Wandbildern im Dom sind wie überall in Kirchen Szenen aus dem Alten und Neuen Testament und von Heiligen dargestellt. Wie es im Himmel ausschaut, dafür finden Theologen und Künstler nur fade Szenen. Da stehen Heilige umschwirrt von Engeln herum. Nichts tut sich. Nichts, worauf ich mich freuen könnte. Eine ewig dauernde Audienz vor Gott oder ein ewig dauerndes Festmahl bleibt eine fade Vorstellung. Hinten im Dom, aber trotzdem im Dom ist eine riesige Fläche, dem Treiben in der Hölle gewidmet. Da toben sich die Teufel aus und die Fantasie der Maler dreht durch mit Szenen aus dem ganzen Sündenkatalog.

 

Wie im Himmel so auf Erden. Was bekomme ich in belebten Strassen von Touristenorten zu sehen? Überall dasselbe. Kleider, Schuhe, Handtaschen, Uhren, Andenkenkitsch, Pizza und Gelato.

 

Zwanzig Kilometer von San Gimignano gibt es bei Colle d`Elsa eine Etruskisch-Römische-Therme. Da bike ich hin (6.7.24). Ein angenehm kleines, offenes Bad mit römischen Restmauern.

 

Am 8.7.24 disloziere ich fünfundvierzig Kilometer nach Siena auf das Camping Colle Verde und – ich habe was gelernt – lasse mich gleich für eine Woche nieder. Beglückendes Gefühl. Erstaunlicherweise ist das grosse Camping trotz Sommerferien halb leer.

 

Auf dem grossen Rathausplatz wird zwei Mal im Jahr ein Pferderennen, die Reiter in historischen Gewändern, ausgetragen. Schon einen Monat vor dem Rennen im August wird bereits auf der Aussenbahn Erde aufgestampft. Zehn bis fünfzehn Zentimeter dick. So werden die Pflastersteine zugedeckt, damit die Pferde Griff haben. Die Masse an Leuten wird die Mitte des Platzes auffüllen.

 

Patrice möchte an diesem Morgen in Berlin wissen, was ich heute in Siena vorhabe. Das kann ich ihm um Neun noch nicht sagen. Am Mittag hat es sich geklärt. Ich bin über malerische Hügel und Täler nach Asciano gebiked….und zurück durch diese wunderschöne Landschaft…. Crete Senesi genannt…macht eine Menge Fotostopps und sechzig Kilometer (9.7.24).

 

Meine heutige Rundtour von fünfzig Kilometern geht über Castellina in Chianti nach Monteriggioni meist durch Eichenwälder und nur kleine Rebberge dazwischen.

 

Der Rundweg über Buonconvento und das Kloster Oliveto Maggiore beginnt erst ab Asciano zurück nach Siena mit den grossen Kornfeldern – teils abgeerntet, teils in der Hitze erstarrt - an den sanften Hängen wieder sehr malerisch zu werden. (85km, 11.7.24)

 

Bei der Zisterzienserklosterruine San Galgano (87km, 13.7.24) stehen noch imposant die Kirchenmauern. Kein Dach über dem Kopf. Das traf bereits zweihundert Jahre nach der Erbauung im 13. Jahrhundert ein. Es gibt in dieser Zeit viele Klostergründungen in Italien und viele davon gehen zwei, dreihundert Jahre später wieder ein. Hat man damals vom Klostersterben gesprochen? Ich weiss es nicht. In diese Zeit hinein passen auch die hunderten von Wohlstandstürmen. Spannend finde ich immer wieder die Etruskergräber mit ihren Grabbeigaben wie die von Malignano. Ansonsten weiss man über dieses Volk praktisch nichts. Schade.

 

Das Castello di Brolio liegt noch im Chiantigebiet bei Siena. (46km, 15.7.24). Ich will mal auswärts essen. In der kleinen gemütlichen Beiz am Wasser gibt es wenig, aber verschiedene «Fische». Super. Darauf freue ich mich. Oppla, die verstehen unter «pesce» keine Süsswasserfische, sondern «frutta di mare». Nach einem Drittel habe ich genug davon. Beim Verlassen der Beiz entdecke ich gleich nebenan den stehenden Bach. Jetzt bin ich froh, stammen die Fische in meinem Magen nicht aus dieser Kloake.

 

Wie stehts mit dem Müll in Italien? Im Piemont und in der Toscana sind sehr viele Mülltonnen in Städten und Dörfern je nach Inhalt farblich divers aufgestellt. Und die Tonnen werden eifrig geleert. Super.  

 

Ekelhaft und achtlos hingegen sieht es entlang der Strassen und Wege aus, wenn die Trimmer das hohe, trockene Gras geschnitten haben. Dann kommt die ganze Wegwerfsauerei von Flaschen und Tüten zum Vorschein.

 

Im Wasser der Bagni di Petriolo lasse ich alle Krusten des Piemont und der Toscana an meinem Körper auflösen. Nach dem heissen Bad im schwefelriechenden Wasser, kühlt der Körper sogar bei 35 Grad Lufttemperatur ab. Der schwere, heisse Wasserstrahl fällt mir massierend auf Rücken und Schultern. Im kühlen Bach zupfen die kleinen Fischchen an jedem Wadenhaar.

 

Nach wunderbaren e-bike Tagen um Siena herum bewege ich mein Womo wieder etwas. Montepulciano. Der Stellplatz ist jeden Donnerstag bis am späten Nachmittag wegen Marktes gesperrt. Die Hauptstrasse im Dorf bergauf ist für Weindeguster attraktiv. Ich bewege mich weiter nach Perugia. Da liegt vorher der Lago Trasimeno. Warum nicht? Im Camping Eden Torricella lebt bei Maurizio die stille Einsamkeit am See. Maurizio gibt mir den besten Platz.

 

Die Rundtour um den Lago Trasimeno reizt mich bei ständig 35 Grad Lufttemperatur. (62km Bike 19.7.24). Der markanteste Punkt ausser den Schilfgürteln, wo einst römische Soldaten mit ihren schweren Rüstungen im Kampf «eingesoffen» sind, ist wohl Castiglione del Lago.

 

Zu den aktuellen Hitzewarnungen in siebzehn italienischen Städten schickt mir Roger einen lustigen Kommentar: «Bei dir muss ich mir ja keine Sorgen machen. Du kühlst dich in (heissen) Schwefelbädern ab?!»  

  

Nach drei, vier Tagen auf demselben Camp bekomme ich jeweils Heimatgefühle. Hier möchte ich bleiben. Aus diesem Gefühl heraus entscheide ich mich auf Eden zu bleiben und Perugia per E-bike zu erfahren. Hier habe ich auf Initiative von Pius Widmer 1974 nach Abschluss meiner Theologie-Studien zwei Monate lang an der «Unversità per gli stranieri» Italienisch gelernt. (56km, 21.7.24)

  

Der Campwart Maurizio verabschiedet mich rührend im fast verwahrlosten Eden:  «Du hast meinem Herzen wohlgetan. Komm wieder vorbei.»

 

Kurz vor Assisi – in Bastia Umbra – bleibe ich bei Iveco stecken. Motor defekt, Motor kontrollieren lassen. Fehler 130. Service. (22.7.24). Franziskus muss warten, ich nicht weniger. Ein Drucksensor ist defekt. Gas zur Kühlung muss nachgefüllt werden. Die EDC-Warnung erlischt nicht. Weitersuchen am Nachmittag. Ein Relais ist kaputt. Also nicht der Motor ist kaputt, wie auf dem Display erschreckend zu lesen ist, sondern die Klimaanlage wie schon oft.  Alles dauert seine Zeit (23.7.24).  

 

Heute (24.7.24) umrunde ich den Heiligen Franziskus, radle durch seine Geburtsstadt, besuche kurz seine Freundin Clara. Radle über die zwei Burgen hoch zu Eremo delle Carceri. Da steigt die Strasse ganz zünftig und schwingt über San Benedetto am Monte Subasio wieder ab (28km).   

 

In Foligno (48km) finde ich nichts Sehenswertes, aber die Bikeübung tut eh gut.

Das Thermometer steigt auf 37 Grad Lufttemperatur. Ich widme mich den Gassen und Kirchen von Assisi und hoch zum Castello Maggiore (28km).

Morgen, am 29.Juli 24 gedenke ich mit dem Womo zum höchstgelegenen Ort in den Abruzzen, dem Capo Imperatore (2138m, 29.7.24) zu fahren. Da vermutlich das Internet ausfallen wird, schicke ich den Juli-Reisebericht schon mal vorweg.

 

 

2024  AUGUST

 

In Assisi verabschiede ich mich von drei lieben Nachbarbuben aus Deutschland/Italien (29.7.24).

 

In Spoleto zeugt ein hohes Aquädukt vor der Burg von römischer Wasserleitungskunst.

 

Ziel ist mir heute das Campo Imperatore, wo der höchste Gipfel des Appenningebirges im Gran Sasso Massiv, der Corno Grande 2912m, sein bröckelndes Haupt den häufig sich ballenden Wolken hinhält.

 

Auf dem Weg dahin ein Fotostopp, um die milden Mulden und Alpentäler zu dokumentieren. Herrlich.

 

Start. Geht nicht. Display schwarz. Kein Strom. Du kennst dich seit vielen Jahren mit meinem Womo aus. Die Halterung auf der Autobatterie hat sich wieder einmal gelöst. Andrücken und der Motor startet bis zum nächsten Mal. Fängt das Übel in herrlicher Berglandschaft wieder an!?

 

Ich verbringe die Nacht in eremitischer Stille auf sechzehnhundert Metern. Anderntags fahre ich zur Erkundung erst mal mit dem Bike auf die Höhe des Campo Imperatore (2135m, 20km). Hier oben funktioniert das Internet. Für mich ein Grund ganz hochzufahren. Eine Nacht stehen kostet 12 Euro. Drei Nächte stehen 25 Euro. Geht doch!

 

Albert, ein Studienfreund, entdeckt ohne zu reisen am Bildschirm sehr viele Details über meine Standorte. Er schreibt: «Steht die Tafel noch dort oben? Sehr wahrscheinlich zu Ehren des italienischen hoch verehrten Radrennfahrers. Ein Teufelskerl am Berg, leider viele Verletzungen, des Dopings verdächtigt, und zu guter Letzt an einer Überdosis Kokain in einem Hotelzimmer verstorben. Ein tragischer Held.» Bei diesem Helden handelt es sich um Marco Pantani (+2004). Ja, das Strassenschild steht noch.

 

Der Hotelkomplex steht zerfallend himmeltraurig da. Keine Renovation in Sicht. Dazu meint Hans: «Eine Millioneninvestition oder Sprengladung». Dem Imperatore würde so eine Detonation posthum sicher wieder einmal gefallen. Der 1943 gestürzte Faschist Mussollini wurde von den Italienern aus Sicherheitsgründen dahin und dorthin verschoben. Zuletzt in das Hotel auf dem Campo Imperatore. Dort haben ihn aber Hitlers Gehilfen mit einem «Fieseler Storch» abgeholt und nach Österreich geflogen.

 

Vor dem Hotel steht noch hilfloser und unansehnlicher eine kleine im Innern stillose Kapelle. Eine Entsorgungsstation von Heiligenbildern und frommem Zeugs wie mir scheint. So unmöglich, widerlich, dass ich keinen Ton herausbringe. Der Italienische Alpenklub hat sie 1935 bauen und 1992 renovieren lassen. Papst Johannes Paul II. hat sie im 1993 neu eingeweiht. Eine Entrümpelung hülfe meiner Andacht.

 

Selten ergreift mich Wehmut beim Verlassen einer Gegend. Das herrlich weite Campo Imperatore tut es! Jetzt sind nebst den Schafherden, auch noch Kuhherden und Pferdeherden angekommen.

 

Als ich südlich nach San Stefano abdrifte, rennt ein grosses Rudel Wildschweine den Hügel hoch. Die Eber mit ihren hohen Schultern wirken wie Büffel im Galopp. Ein Nachzüglerchen mit einem noch kleineren Schwesterchen bittet mich erschrocken, ihre Strassenüberquerung zu sichern. Tue ich gern (2.8.24).  

 

So altenfeindlich wie San Stefano di Sessanio habe ich noch kein Dorf gesehen. Schlüpfrige, von Gummischuhen abgespeckte Pflastersteine und fast nur ungleich hohe Treppenstufen bilden das vertikale Zugangsnetz zwischen den verstrickten Häusern. Toll für Touristen wie mich (2.8.24).    

 

Auf dem Weg nach Calascio überholen und erkennen mich Raffaele, Sabatino und Mariateresa. Ich komme daher geradelt. Sie stoppen mich bei einer Beiz und laden mich zum Drink ein. Wir haben uns auf den letzten Metern einer Wanderung beim Campo Imperatore kurz kennengelernt. Diese offenherzige Familie möchte ich eines Tages in der Nähe von Paestum besuchen. Eines Tages! (2.8.24).

 

In der Kirche beim Castello über Calascio hat einmal der Blitz durch ein Fenster eingeschlagen, ist direkt auf das Seitenmonument los und hat dort blitzartig Johannes den Täufer enthauptet und ein Brandmal in die Säule neben dem Enthaupteten gedruckt.

Das ebenerdig angebrachte, funktionierende Fenster in der Kirche Maria della Pietà ist einzigartig. Ein Fenster zum Kirchenraum ebenerdig angebracht?! Wozu? Die Hirten konnten bei offenem Fenster draussen dem Gottesdienst folgen und gleichzeitig die Schafherden und Wachhunde beobachten.

 

In Castelnuovo fixiert mir ein lieber Kerl bei Tamoil am Samstag die Verbindungshalterung auf der Batterie. Alte Geschichte. Seit dem Stromausfall haben auch die Stabilisatoren den Geist aufgegeben. Das vollständige Batterieladen hilft nicht. Ich liege schräg im Bett (3.8.24). 

 

Die Wehmut nach dem wunderschönen Tal dem Gran Sasso entlang siegt und auch ist der Corno Grande (2912m) enttäuscht über meinen Abgang. Darum fahre ich über San Stefano nochmals hin zum Campo Imperatore (5.8.24). In den letzten zwei Tagen gab es gegen Abend kurze Gewitter. Neu für mich in Italien.

 

Um fünf erwache ich. Beim Packen reisst mir das Uhrarmband. Was soll das bedeuten? «Deine Zeit ist abgelaufen?» Oder: «Zeit spielt jetzt keine Rolle?» Ich deute für mich auf Letzteres. Denn es ist ja nicht die Uhr, die stillsteht, sondern bloss das Band, was gerissen ist und bedeuten will, den Chronometer im Womo zu lassen. «Zeit spielt jetzt keine Rolle!»

 

Dreiviertelstunden nach Erwachen beginne ich den Aufstieg zum Corno Grande. Auf etwa 2800 umwandert man den Gipfel entweder auf steilem Schotterband, was mir Einheimische vor Ort ungefragt abraten, oder man steigt in den von steilen, bröckelnden Felsblöcken durch setzten Steilhang. Als ich kräftigen jungen Männern zuschaue, wie sie beim Aufstieg auf den Felsblöcken kaum vorwärtskommen, wird mir bewusst, dass ich den Abstieg durch dieses Gelände nicht meistern will. Mir täten vielleicht die Bremsen versagen. Das wäre kein schönes Erlebnis. Das Herz folgt ohne Motzen dem Verstand, als ich entschieden und zufrieden umkehre (6.8.24).

 

Massimo, ein junger Bayer, den ich an dieser entscheidenden Stelle getroffen habe, holt mich beim Abstieg auf 2506m wieder ein. Wir unterhalten uns auf dem weiteren Abstieg. Massimo nennt mir noch schöne Orte, die er als halber Italiener kennt. Er nennt mir den Ort Pineto mit dem Pinienstrand als besonders schön. Hier wohnen seine Grosseltern.    

In L`Aquila können meine Stabilisatoren/Stützbeine nicht repariert werden. So hänge ich halt weiterhin schräg im Bett…

 

Dafür kriege ich in Pescasseroli einen Platz für eine Nacht auf dem Camping. Ich bin jetzt vom Nationalpark Campo Imperatore in den Nationalpark D`Abruzzo Lazio e Molise gewechselt. Es gibt einige Strassenschilder: «Achtung Bären überqueren die Strasse.» Spannend!

 

Schon bisher bin ich allerorts fast der einzige Ausländer unter Italienern. Bald aber ist Ferragosto, der 15. August. Maria Himmelfahrt und mein Geburtstag. Ferragosto wird in Italien besonders als Familientag gefeiert, fast mehr wie Weihnachten und Ostern und vor allem anders. Die Italiener packen ihre Familie ins Auto und fahren entweder ans Meer oder in die Berge. Ich bin jetzt in den Bergen auf tausend Höhenmetern und lasse mich zwei Wochen lang im Camping «Il Vecchio Mulino» in der alten Mühle nieder, damit ich unter den Italienern unterwegs nicht zerquetscht werde. (8.8.24-22.8.24).

 

Danach wird dieser Feriensturm vorbei sein. Der Ursprung dieser Feiertage geht auf die Römer zurück. Feriae Augusto nannten sie die Feiertage, die Kaiser Augustus nach einem Sieg den Untertanen gewährte. Sie enden jeweils am 15. August.

 

Bedrohlich sitzt im Hinterkopf die Erwartung eines kommenden Aufgebotes, das Wohnmobil vorführen zu müssen. Jetzt ist das Aufgebot am 9.8.24 für den 25. September da! Dabei möchte ich doch gern bis Ende Oktober in Italien verweilen. Hans rät mir, die ganze Verschiebung dem Fachmann zu überlassen, damit ich selber nicht in hoffnungslose Schreibereien mit der Kontrollstelle in Zug verwickelt werde. Guter Hinweis! Ich telefoniere mit Adrian Fürk AG in St. Gallen. Adrian ist sofort bereit, eine Verschiebung bis Ende Jahr herauszuholen, damit ich meinen Italienaufenthalt nicht kürzen muss und wir genügend Zeit haben werden für eine Instandstellung des Fahrzeuges. Hei, wie bin ich erleichtert und froh um diesen Dienst von Adrian Fürk AG (9.8.24).

 

Am Wochenende vor Ferragosto füllt sich das grosse Camping «Alte Mühle» mit Familien. Kinder helfen begeistert beim Aufbau der Zelte und beginnen Kontakte zu anderen Kindern zu knüpfen. Leben zieht ein, aber keineswegs überbordend. Bisher habe ich mit altersmässig Meinesgleichen die Campingplätze belegt. Ausser durch viele Hunde, war kaum Bewegung zwischen den Campern. Jetzt entfaltet sich Leben.

 

Auf sechzehnhundert Höhenmetern an der SR479 Richtung Scanno gibt es eine Hochebene mit ganz wenig Baumbestand. Kühe und Schafe werden von Hirten begleitet, weil es auch ein Eingangstor zum Nationalpark Latio e Molise ist, wo die Bären und Wölfe vorzüglich hausen (50km Bike, 12.8.24).

 

Meine rücksichtsvollen Nachbarn wollen mich schon zwei Mal zum Essen einladen. Beide Male habe ich schon gegessen. Ich führe eigentlich keine Gespräche mit ihnen, weil die zwei befreundeten Familien unter sich genug Gesellschaft haben. Ferragosto aber müsse ich mit ihnen feiern. Heute kommt auch noch das Paar von der linken Seite und lädt mich zu Ferragosto ein und gerade noch drei Paare frontal mit guten Absichten (14.8.24).

 

Auf dem Grill brutzeln Spezialitäten aus den Abruzzen: Rosticini, Steaks, Salzici und Gemüse. Die einheimischen Tomaten sind wirklich aromatisch. Wir essen und plaudern in froher Runde.

 

Weil ich meine Scheu überwinde, gebe ich der Festversammlung auch noch meinen Geburtstag preis. So feiere ich denn in froher, gastfreundlicher Gesellschaft unter mir bisher Unbekannten meinen 78. Geburtstag. Eine Wohltat.

 

Am Tag danach bin ich bei Römern eingeladen. Drei Ehepaare in drei Campern. Feinste selbstgemachte köstliche Kost. Sind Bauern. Sie laden mich zu sich auf ihr Grundstück ausserhalb von Rom. So öffnet sich mir die Welt und Herzlichkeit der Italiener (16.8.24).

 

Ich lese in den letzten Wochen mein Tagebuch von 1992 bis 2011. Es sind tausendfünfhunderteinundachtzig Seiten voller Freude und Leid, voller beglückender und hässlicher Begegnungen, voller Schuld und Vergebung, voller Arbeit und Muse, voller aufstellender und bedrückender, voller sinnvoller und sinnloser Momente. In welch anderem Beruf wird man so viel erleben und durchzustehen haben?

 

Ein Jahr vor meiner Pensionierung schreibe ich am 26. August 2010 in mein Tagebuch: «In dieser warmen Nacht hocke ich auf dem Balkon und träume, ich möchte einmal zwei Monate lang vom selben Ort aus die sich verändernde Bahn des Mondes aufzeichnen. Oder solange an einer Ameisenstrasse hocken, bis ich zehn wiederkehrende Ameisen einzeln an ihrem Fussabdruck erkenne. Oder so viele Monate dem Meer lauschen, bis ich die hundert wichtigsten Wellenwörter verstehen werde. Oder an einem Bach sitzen, bis ein ins Wasser geworfener Stein sich zu einer Kugel gedreht hat.» Zeit habe ich jetzt genug, all diese Träume Wirklichkeit werden zu lassen. Ein Bisschen davon gelingt (18.8.24).

 

Am Lago di Scanno tummeln sich die Italiener. Auf den steilen Treppen und Strässchen der Altstadt und am Lago di Scanno und dem Lago San Domenico gibt es ein paar schöne Fotowinkel (22.8.24).

 

Es gibt viele Dörfer mit mittelalterlicher Bausubstanz. Meist in Hanglage und sehr schwer zu erreichen! Dort, wo in der Schweiz meist nur eine Burgruine steht. Segen oder Fluch für die Besitzenden?

 

Der Ort Frattura wurde am 13. Januar 1915 durch ein Erdbeben zerstört. Gegen 200 Todesopfer. Der Name Frattura/Bruch geht aber auf prähistorische Zeiten zurück, als ein Erdrutsch vom Monte Genzana im Tal den Fluss Sagittario blockierte und den Scanno-See bildete. Frattura wurde gegen besseres Wissen auf dem lockeren Material gebaut, das der prähistorische Erdrutsch dorthin gebracht hatte, Material, das die seismischen Wellen und damit die Erdbebenschäden verstärkte.

 

Beim Verlassen des Lago di Scanno zwänge ich mich durch die enge, abgründig tiefe «Gole del Sagittario». Zum Glück bin ich um neun schon unterwegs. Mich kreuzen etwa zwanzig Fahrzeuge. Höchste Aufmerksamkeit gefragt. Nach hundert Kilometern erreiche ich ohne Kratzer das Meer. Azzurro come il cielo. Ich habe kein klares Ziel und lasse mich von einem Campingwegweiser leiten: Belevedere bei Le Morge. Der Campingwart begleitet mich zu Oberst auf den Hügel und hilft mir schadfrei einweisen, denn ich komme immer noch mit dem allergrössten Camper daher. Freie Sicht aufs weite Meer und die vielen Strandliegen unten sind durch Bäume meinem Blick verborgen.

 

Kaum angekommen mache ich zu den über das grosse Womo staunenden Nachbarn eine Bemerkung, die Stabilisatoren würden nicht mehr arbeiten, kommt ein Mechaniker daher, probiert und legt sich unters Womo, um nach dem versteckten Ölgefäss zu schauen. Zwei Stunden arbeitet er daran und spannt zum Testen und zur Hilfe im Internet auch seinen Sohn Emanuele ein. Auch ein paar Telefonate zu anderen Mechanikern helfen nicht wirklich. Unglaublich dieser freiwillige Einsatz. Ich bin beschämt. Vor dem Mittagessen, zu dem sie mich obendrein einladen, wird auch grad noch gebetet. Die Eltern stammen aus Sizilien. Meine Nachbarfamilie wohnt jetzt nördlich von Mailand. Am Nachmittag will mir der fünfzehnjährige Ricardo die Velowege am Strand zeigen. Nach sechzehn Kilometern sagt er, er sei müde. Mich wundert es nicht: Ricardo geniesst ganze Nächte mit Freunden und Freundinnen am Strand. Kaum auf dem Campingplatz angekommen bin ich so schnell wieder aufgenommen (24.8.24).

 

Die Nachbarn laden mich am Sonntag zur Messe ins «Santuario della Madonna di Miracoli» bei Casalbordino ein. Dort wird auch Padre Pio sehr verehrt. Sie sind bereits zu Fünft im Auto abfahrbereit. In aller Eile lasse ich mir den Ort in Maps eintippen, um ihnen mit dem Bike zu folgen. Los geht’s über Gravelroad, steile und abfallende Passagen mit Stechdisteln um die nackten Beine. Schliesslich lande ich am Stadtrand bei einer Kneipe namens «di miracoli». Bis ich mein richtiges Ziel nach weiteren zweieinhalb Kilometern endlich erreiche, spricht der Priester gerade den Schlusssegen.

 

Bei der Lektüre über Padre Pio merke ich, wie mein Glaube ohne Wunder auskommt. Gott sei Dank! Darüber bin ich froh. Denn die Querelen um die Wundmale (Stigmatisierung mit «Chemikalien selbst beigebracht und gepflegt», oder «was helfen Wundmale Jesu Werk der Barmherzigkeit?») und über die Naivität der Persönlichkeit von Padre Pio sind wüst, auch wenn der wundergläubige Papst Karol Wojtyla den Padre, nicht über alle Zweifel erhaben, mit einem Machtwort unter hunderten von Heiligen in Italien eingereiht hat. In Italien gibt es überdurchschnittlich viele Heilige. Wieder einmal stelle ich fest: «Mein Glaube wird nicht genährt durch Wundergeschichten. Wird durch solche Wundergeschichten weder gestärkt noch ins Wanken gebracht. Gott sei Dank!»  (28.8.24)

 

 

 

2024 SEPTEMBER

 

Ich bewege mich südlich zum Zipfel im Nationalpark Gargano in Apulien, der weit ins Meer hinausragt. Vom Lago di Varano bis Vieste gleicht die Strasse mit dem Camper einem wahren Klettersteig rauf und runter, eng und kurvig (2.9.24). Das weissgetünchte Städtchen Peschici mitten auf dieser Fahrt bietet einen Hingucker. Das schaue ich mir nochmals per Bike an. Fünfzig Kilometer von Vieste nach Peschici und zurück. Es gibt viele kleine Buchten mit Campings.

 

Sie nennen ihn Monolit, den Felszapfen, der einsam frei am Strand von Vieste steht. Er hat den Wellen des Meeres über Jahrtausende standgehalten, während die alten Häuser auf den Klippen bald ins Meer abzustürzen drohen.  

 

Am 4. September kommt mein Patenjunge Beat mit seiner Tochter Jasmin angerauscht. Vieste by night. Die Strässchen noch knallvoller Touristen.

 

Anderntags (5.9.24) sind wir am Bootshafen verabredet. Für einhundertzwanzig Euro kriegen wir ein flottes Boot für vier Stunden. Beat lässt sich noch so gern als Kapitän anheuern, denn selber am Steuer drehen ist das beste Mittel gegen Brechreiz. So macht es uns allen sehr viel Spass, der Küste entlang von Vieste bis Pugnochiuso in alle Buchten und zu den vielen Felsgrotten zu schippern. Wir sind fasziniert, wie der Kreidefels senkrecht ins Meer abbricht und seine Strukturen freigibt. Meist liegen diese Meeresablagerungen in vielen Schichten waagrecht und vereinzelt wieder wild geknetet durcheinander. Fasziniert sind wir davon, wie die ständigen Wellen sich in das lockere Gestein brechen und Höhlen und Kathedralen auswaschen. Das sind die schönsten, interessantesten elf Meilen am Gargano, die wir geniessen.

 

Während Jasmin und Beat über Castel del Monte nach Matera fahren, suche ich diesen Ort über Nebenstrassen in der Salzgewinnungsebene und dann auf der Autobahn direkt auf. Für diese zweihundertdreissig Kilometer brauche ich fünf Fahrstunden!

Matera überwältigt mich total. Die Höhlenwohnungen und die verschachtelten Häuser scheinen als Kulisse in eine riesige Arena hineingebaut. Unwirklich und doch gewachsene Realität. Auf einer Umgehungsstrasse wie auf einem Gürtel enden die Gebäude und das Gelände fällt in ein enges, wenig Wasser führendes Tal ab. Auf der gegenüberliegenden Seite gibt es kein einziges Gebäude. Von dort aus liegt die ganze Stadtarena vor einem.

 

Die Leute haben in den Höhlenwohnungen zusammen mit ihrem Viehzeug bis 1953 sehr primitiv gelebt. Die Mussolinis sollen sich über diese Behausungen der Ärmsten von den Armen geschämt und ein Umsiedlungsprojekt ins Leben gerufen haben. Wissenschaftler haben sich städtebaulich, psychologisch, sozial, medizinisch mit diesem Projekt befasst, aber wie mir scheint, ohne die Betroffenen.

 

Die Trullistadt Alberobello mit seinem Trulliviertel scheint wie gemacht für Trolle. Menschen können sich sehr wahrscheinlich tagsüber durch die Menschenmassen heutzutage auf den Strassen kaum mehr wohl fühlen. Lieblich schauen sie aus, diese runden Zwergenhäuschen mit ihren steinernen Zipfelmützen.

 

Warum eigentlich Trulli? Die Fürsten in dieser Gegend standen unter finanziellem Druck der Stadt Neapel. Darum haben sie die festen Häuser in ihrem Hoheitsgebiet besteuert. Die armen Bauern haben schlauerweise, aus existenziellen Gründen provisorische Steinhäuschen ohne Mörtel für sich und das Vieh gebaut. Kamen die Steuerfahnder ins Land, konnten diese Häuschen sofort abgebrochen oder in einen Steinhaufen verwandelt werden.

 

Während sich Jasmin und Beat die Altstadt von Lecce anschauen, gehe ich schon mal voraus, den Camping Faraglione in Torre Sant`Andrea an der Adria besetzen. Umspülte Türme stehen wie Persönlichkeiten im Wasser und unterhalten sich mit den Wellen des Meeres. Junge springen unaufhaltsam von den Klippen und erklettern sie wieder.

Jasmin und Beat verabschieden sich leider. Sie fahren zu einer Höhenwanderung nach Amalfi. Ich mache den nötigen Wäschetag und drehe die Wäsche anschliessend wie in einem Tumbler im Womo. Regen hat nämlich eingesetzt und soll mich zwei Tage hinhalten. Gut so. Regeneration ist angesagt. Einzelne Camps und Mercados beginnen ihre Tore zu schliessen und mir ihre Produkte billig anzuhängen (9.9.24). 

 

Mit Franco rede ich eine Stunde lang im Restaurant Confine am Strand. Franco lebte zweiundzwanzig Jahre in Zürich, davon fünfzehn Jahre als Automechaniker. Als er wieder hierher nach Hause kam, riet ihm ein Kollege, die Bar am Strand zu kaufen und lieh ihm das nötige Kleingeld dazu. Franco ist jetzt zweiundachtzig Jahre alt. Ich gebe mich als katholischer Priester zu erkennen und lade ihn in «seinem Restaurant» zum Essen ein. Er bedauert wegfahren zu müssen. Seine Frau habe für den Ausflug schon alles gepackt. Zum Abschied drückt er herzlich mit beiden Händen meine Hand.

 

Ich bin zum Pizzaessen unterwegs. Die Womotüre schliesst beim ersten Mal nicht wirklich. Was will sie mir damit heimlich sagen? Ich knalle etwas fester. Ok... Nein!!! Die Schlüssel sind drin!!! Für mich doch kein Problem. Ich greife zum Portemonnaie. Da liegt k-ein Notschlüssel drin!!! Ich bin ja sowas von klug und habe noch einen Notschlüssel von aussen auffindbar versteckt. Öffne die Lucke. Da ist keiner drin!!! Dritte Notlösung. Ich hole die Taschenlampe aus der Garage und fuchtle damit herum. Das schmale Seitenfenster ist unverschlossen. Meine Rettung! Ich montiere den Tisch auf Hochbein zum Einstieg.  Dann warne ich die Nachbarn die Polizei zu rufen, wenn ich jetzt im Dunkeln bei mir einsteige. Sofort kommt Clemente und will für mich einsteigen, weil mein Bauch zu wohlgeformt sei. Er steigt ein und kriegt das hin und die Türe auf. Mit Clemente habe ich zuvor kein Wort gesprochen. Er und seine Frau waren einfach da!

Bevor ich anderntags wegfahre  (12.9.24), vernimmt Antonietta, die Frau von meinem Einsteiger, meinen Beruf. Sofort kommt sie zu mir und bittet um einen Segen für sich und ihren Mann Clemente. Diesen «Einbrecher» und seine Frau segnen? Mach ich gern.

In Le Quille kriege ich keine Auffahrkeile, dafür gibt’s eine IVECO-Werkstatt. Mario fixiert mir die schwimmende Batterie und die lockere Anbindung der Interconnection. Ich kann dir gar nicht sagen, wie oft ich wegen dieses blöden Defektes bisher wieder nicht starten konnte. Ganz Italien lacht…

 

Zweihundertneunundfünfzig Kilometer hat die Fixation gehalten. So weit bin ich heute von Torre di Sant`Andrea (Apulien) nach Calanchi di Aliano (Basilicata) gefahren.

Nach Aliano wurde 1935/36 der jüdisch-italienische Schriftsteller und Arzt Carlo Levi (*1902) verbannt. Er hat über diese sehr arme Gegend das Buch «Christus kam nur bis Eboli» geschrieben. Levi ist 1975 in Rom verstorben und wurde in Aliano beigesetzt.

In Aliano gibt es den zweiundzwanzig Kilometer langen Wanderweg Carlo Levi um die bizarren Lehmsandhügel der Calanchi di Aliano herum. Mal steil bergab, mal braucht das E-bike bergauf wacker meine Hilfe, nicht wegen der zu überwindenden Höhenmeter, sondern wegen der Steilheit der Strasse. Ein wunderschöner Naturmärchenpark. 

 

Büsche halten sich mit ihrem Wurzelwerk im lehmigen Sand, während um sie herum durch Sonne, Wind und Regen alles abgetragen wird. So entstehen diese grauen Kegel mit ihren grünen Mützen, die hübschen Calanchi.

 

Rossano ist eine Stadt an einem Abhang unweit des Meeres gebaut. Schon seit dem 11. Jh. v. Chr. hatten sich Menschen hier niedergelassen. Bedeutend war diese Stadt in der byzantinischen Zeit. Heute verwaltet das Diözesanmuseum von Rossano den Codex Purpurensis. Eine Sammlung von ikoneartigen Bilder über das Leben Jesu und Teile des Markus und des Matthäus-Evangeliums in griechischer Sprache. Die Texte wurden auf purpurfarbenem Pergament mit purpurfarbener Tinte geschrieben. Wunderschön! (14.9.24)

 

Im weiteren Verlauf nach Süden gibt es imposante Grünflächen mit Obstbäumen, aber auch wild meandernde Bäche und Flüsse aus dem gebirgigen Hinterland. Diesen Wasserläufen will ich mich bei Unwettern fernhalten. (Aktuell stehen Teile Polens und Tschechiens unter Wasser. Die Karolabrücke in Dresden ist eingestürzt und muss schleunigst wegen zu erwartendem Hochwasser entfernt werden.)

In Punta Alice bei Cirò Marina kehrt Ruhe ein. Einige Campingplätze haben dichtgemacht. Punta Alice wird Ende September schliessen.

 

Diese Nacht (16.9.24) lagere ich auf dem Stellplatz I Bronzi am Meer. Alexandra und Cosimo und sein Bruder haben sich zwei Kilometer im Tal hinten in Travatura wunderschöne Villen gebaut. Ihre Schwester Pina und Mutter Geraldina Franco besuche ich in Siderno. Meine Schwester Theres ist die Patin von Alexandra. Von daher dieser Bezug.

Der Weg von Locri den Berg hinauf nach Gerace ist kurvenreich und eng. Ein Vergnügen. Auf dem höchsten Teil thront eine normannische Burg aus dem Zehnten Jahrhundert. Das Dorf ist verschachtelt gebaut mit schmalen Strässchen. Und wegen der Hanglage kaum zu überblicken. Auch die Kathedrale ist kaum auszumachen in diesem Gewirr. Überrascht bin ich darum total von ihrem gewaltigen Innenraum.

 

Die südliche und westliche Seite von Kalabrien fahre ich dicht dem Meer entlang. In Sachen Strassenverhältnis und Roudis bin ich von Einheimischen gewarnt. Doch die Strasse ist bequem zu fahren und an ständige Überholmanöver bei durchgezogenen Linien bin ich mich in ganz Italien gewohnt. Und schon bin ich in Villa San Giovanni. Etwas wenig hilfreich sind die Beschriftungen, durch welches Gate ich fahren soll. Ich erwische es. Ein Ticket für sechsundvierzig Euro ist bald getätigt. In fünf Minuten fahren wir!

 

In einer halben Stunde fahre ich in Messina von der Fähre Richtung Taormina nach Süden. In Taormina kleben die Touristen an den Strassenseiten der SS114 und mir tun die Menschen leid, die in Naxos an diesen sehr engen Einbahnstrassen wohnen. Kilometerweit gibt es kein Entrinnen. Auch die Einfahrt zum Stellplatz Eden in Naxos ist nochmals kitzlig eng. Für Heute reicht es mir, will ich dir ehrlich sagen! (18.9.24)

 

Die Isola Bella zieht vom Festland an der SS114 viele Gucker an. Die Strassenränder sind vollgeparkt. Zur hochgelegenen Stadt Taormina gibt es eine Seilbahn und auch Shuttle-Busse. Ich mach das mit dem E-bike. Bin aber unter tausenden BesucherInnen der Einzige. Auch bei der Burgruine, noch einmal hoch über der Stadt gelegen, kommen nur Wenige an. Die freie Rundsicht über das Meer, Kalabrien, die Strasse von Messina, das Inselfestland und den Ätna ist bezaubernd. Ich nehme diese Ruine, die selber kaum was zu bieten hat, wegen dieser Lage lange in Besitz. Der Ätna ist 3369m hoch und bildet in der Ebene einen Mantelsaum von fünfundvierzig Kilometern Durchmesser.

 

Beim Runterfahren in die Altstadt gerate ich unausweichlich in die Touristenstrasse mit Boutiquen für Wohlhabende. Diese Strasse ist nun dichtgedrängt voller Leute bis zur anderen Seite hinaus zum römischen Amphitheater von Taormina. Bike durch das Gekrabbel schieben. Auch hier haben die Römer ein Theater der Superlative gebaut. Ureinwohner waren die Sikeler. Im 4. Jahrhundert vor Christus nahmen die Griechen Besitz von weiten Inselteilen. Dann dir Römer. Im Mittelalter machten die Araber die Stadt kaputt und heute wir Touristen. (19.9.24) 

 

Nicht der blanke Horror, aber mit Horror bezeichne ich den heutigen Tag. Auf der Autobahn erreiche ich bald einmal Syrakus. Da soll es einen Stellplatz am Hafen geben. Kaum von der Autobahn weg, kämpfe ich mich mit allen anderen Steuersleuten Meter für Meter durchs Zentrum zum Hafen. Alles vollgestellt. Nix Stellplatz. Wenden, stotternd und kämpfend wieder zur Stadt raus. Nächstes Ziel eingeben. Es liegt nur etwa sechzig Kilometer am südlichsten Zipfel von Sizilien.

 

Ich muss Pachino durchfahren. Die Stadt ist eingeteilt in lauter rechtwinklige Schachbrettstrassen. Da wo ich die Stadt wieder verlassen sollte, sind zwei Auswege ohne Vorwarnung wegen Bauarbeiten gesperrt. Wieder ein paar Strassen neben parkierten Autos hoch und dann Rechts! Rechts geht mit sieben Anläufen nicht. Ich stehe bergwärts in der Kreuzung und blockiere alle vier Wege. Da solltest du dabei sein! Für Stossgebete, du weisst schon. Ich habe keine Zeit dafür. Zwei Italiener helfen mir die Autos rückwärts wieder rausschicken. Mein Womo startet nicht mehr. Aussteigen Deckel hoch. Rütteln. Einsteigen. Geht ja! Rechts um die Ecke über den Randstein! Ein Italiener steigt bei mir ein, weil er das gleiche Ziel hat und mir helfen will. Toll. Nur kennt er sich ebenso wenig aus wie ich selber. Jetzt dirigiert er mich rechts in eine Strasse rein, die vor unseren Augen nasengäch abstürzt und sofort wieder über die schmale Querstrasse wie in San Franzisco. Natürlich kratze ich hinten im Steilhang. Ich steige aus und nehme einen Augenschein. Es gibt keine andere Möglichkeit. Ich muss da durch. Nach kurzem Kratzen beruhigt sich das Womo. Die Rückwand hängt offenbar noch dran!

 

In Portopalo di Capo Passero verengt sich die Strasse in die Stadt wieder. Da geh ich nicht mehr durch. Mein Begleiter kennt den Campingplatz quasi vor seiner Haustüre nicht. Ich lasse ihn aussteigen und entlade das E-bike zur Erkundung. Genau. Den Durchgang zum Camping finde ich nicht. Ziemlich müde und verspannt gebe ich auf und kehre nach Marzamemi an der Ostküste acht Kilometer zurück und verarbeite auf einem Stellplatz beim Schreiben diese blöden, heiklen Erlebnisse. Jetzt hast du sie mit mir geteilt. Mir ist wieder wohler. Danke.

 

Und schon der nächste Schlag an diesem Horrortag. Der sechzigjährige polnische Pfarrer Andrzej im Sarganserland, den ich dann und wann vertrete, ist im Spital Chur verstorben! (20.9.24) Und Stefan meldet den Tod seiner Schwägerin Therese in Bern. All das macht mich wirklich traurig. (21.9.24)

 

Mit dem Parkplatz auf der Wiesen in Marzamemi gebe ich mich zufrieden. Am Meer vorn gibt’s zwei hübsche Plätze und weil das Wetter immer noch auf 30 Grad steht, werden carweise Touristen angekarrt. Es ist immerhin der südlichste Zipfel von Sizilien mit viel Tomaten, Oliven, Zitronen, Orangen und Granatapfelanbau.

 

Die zweihundert Kilometer Fahrt nach Agrigent ist wohltuend. Es geht oft quer über Nord-Südtäler hinweg. Der Campingplatz nahe dem Tal der Tempel gelegen ist auch angenehm. (21.9.24)

Von oben gesehen, von der Altstadt Agrigent aus, kann man vom Tal der Tempel reden. Aber vom Meer hergesehen, erheben sich die Tempel auf einem zwei Kilometer langen Hügelzug. Krete der Tempel, würde ich sagen.  

Der Konkordiatempel ist die besterhaltene Tempelruine. Das kommt von der Übernahme und dem inneren Ausbau des griechischen, dann römischen Tempels durch die Katholische Kirche. Zwischenwände mit Rundbogen wurden eingebaut. So entstand eine dreischiffige Kathedrale und die Hülle wurde vor dem Abriss bewahrt.

Hundert Kilometer weiter westlich stehen Ruinen und liegen Trümmerfelder von Selinunte. Selinunte wurde von den Griechen aufgebaut und von den Karthagern zerstört.  Danach haben die Römer sie wieder auf- und umgebaut. (Die Römer nannten die Karthager aus dem heutigen Tunis/Tunesien auch Punier und zerstörten ihrerseits Karthago.)  

 

Siebzehn Kilometer von hier im Landesinnern haben die Normannen neunhundert nach Christus eine kleine Dreifaltigkeitskirche gebaut. Ich radle eiligst dahin. Zu meiner Enttäuschung ist der Park um die Kirche herum geschlossen und die Bäume geben keine Sicht frei. Für mich aber öffnet sich eine Gelegenheit um ein Buffet herum im Freien einzuschleichen, während die Angestellten im Parkrestaurant nebenan eifrig mit den Tellern scheppern. (24.9.24)

 

In der gegenwärtigen Masse an Menschen durchstreife ich recht gedankenlos das Innere der Kathedrale von Palermo und ebenso das Innere der an sich bewundernswerten Kathedrale von Monreale (1172-1176). Zum ersten Mal verliere ich wegen des Massentourismus jegliches Interesse an Geschichte, Architektur und Kultur. Ich gehe leer aus! Auch Mondello westlich von Palermo findet kaum meine Beachtung, obwohl ich für ein paar Tage hier geparkt habe. (26.9.24)

 

Du verbringst hoffentlich einen ruhige, besinnlichen Sonntag. Ich muss früh aufstehen, um Sieben - zwei Stunden vor «Leine los» - beim Einchecken auf die Fähre Palermo/Sizilien – Caghliari/Sardinien sein. Auf der Fähre gibt’s dann zwölf Stunden Ruhe..

 

Ich habe den engsten Platz in der Fähre erwischt. Eingezwängt zwischen Containern. Ich muss zentimeterweise rückwärts raus. Geht schon. Draussen kommt sofort die Einfahrt in mögliche drei verschiedene Strassen der selben Richtung. Das GPS sagt, es müsse noch Satelliten suchen und kann mir nicht helfen. Ich nehme mal die erste Rechts. Falsch. Da kommt eine Unterführung mit zwei Meter Höhe. Da passen Dreimeterfünfunddreissig nicht rein. Zwei Mal kommen jetzt Kreisel von zwei Metern Durchmesser. Ich frage da und dort Leute, wie ich da wieder rauskomme. Der Vierte weiss Bescheid. Ok. Das ist geschafft.

 

Zwei Kilometer vor meinem Ziel für die Nacht fahre ich erst eine Links- dann eine Rechtsabbiegung. Danach geht nichts mehr. Das Kupplungspedal bleibt in gedrückter Haltung stecken. Das bedeutet Stillstand nach diesen unübersichtlichen Kurven, wo die Heimkehrer in zwei Kolonnen angebraust kommen. Warnblinker! Warnweste! Dreieck! Jetzt kann ich mich dem Kupplungspedal widmen. Sofort erkenne ich, die Sicherungsabdeckung hat sich unten losgerissen und blockiert das gedrückte Pedal beim Entlasten. Ich muss das Womo ohne Motor etwas nach hinten rollen lassen, damit ich die Garagentür neben der Leitplanke öffnen kann. Glück. Die Strasse fällt etwas nach hinten ab. Jetzt komme ich zum Werkzeug. Zu einem Ringschlüssel, mit dem ich die Abdeckung losschrauben und entfernen kann. Das Pedal funktioniert wieder. Pannendreieick einholen und wegfahren.

 

Beim nächsten Kreisel gibt es unübersichtlich zwei dicht beieinander liegende Ausfahrten. Ich erwische die falsche und muss nach zwei Kilometern wieder wenden. Schliesslich fahre ich vor ein riesiges Feuerwehrdepot und schaue mir mal die Situation an, wo ich gelandet bin. Zwar noch vier Kilometer weg vom Ziel, aber der grosse Kiesplatz scheint mir geeignet und ruhig. Falls bei der Feuerwehr nicht der Teufel wütet, werde ich eine ruhige Nacht geniessen. (29.9.24)

 

 

Kornel: «Sind gerade auf dem Camping L`Ultima Spiaggia bei Bari Sardo angekommen. Ziemlich voll. Versuche für dich auch gleich was zu reservieren.» Lorenz: «Bin noch ca 80 km entfernt». Kornel: «Wow, du wirst direkt neben uns zu stehen kommen. PARZELLE 113 ist auf deinen Namen reserviert. Werden wir staunen!!!» Kornel:  «Der Puls steigt».   Um 12.30 räumt Ramon einen Anhänger aus dem Weg bis er merkt, wer da ankommt. Alle sind sie beim Mittagessen. Ramon, Yara, Franziska, Kornel. So schön, so liebe Freunde zu treffen und ein paar Tage mit ihnen zu verbringen. (30.9.24) 

 

2024  OKTOBER

Von Sizilien herkommend treffe ich am 30. September 2024 auf der Insel Sardinien mit Zilligs auf dem Camp L`Ultima Spiaggia in Bari Sardo zusammen.  Wie erhofft macht mir diese Familie Mut, ins fast warme Wasser des Meeres zu steigen. Die Wellen drücken mich oft wieder an Land.

 

Selbst an der Costa Rei sind die Touristenströme weg. Wir aber wohnen eh im Hinterland. Das sei heute Nacht um Zwei besonders wichtig, denn es komme laut Wetterapp ein Hurrikan über uns, sagen uns Österreicher. Seit Jahren schlafe ich nicht mehr so lange am Stück. Der Sturm saust offenbar nördlicher über Korsika hinweg.

Kornel und Ramon nehmen sich meiner verstopften Abwasserleitung an. Sie öffnen jeden noch so versteckten Schacht und Leitungswinkel. Ramon filmt mit dem Handy, wo man nicht mehr durchgucken kann. Schliesslich werden sie an zwei verstopften Stellen fündig. Da gibt es dreizehnjährige Ablagerungen! Hei, was bin ich froh um diese Hilfe! (Agricampeggio Su Meigama, 3.10.24)

 

In Richtung Norden lässt es sich bis Cala Sinzias über einen Hügel hinweg herrlich Biken. Vom Area Sosta Villasimius aus geniessen wir ebenfalls die abends autofreie Zone im Dorf. Kornel lässt mit mir auf dem nächtlichen Heimweg mit zweistimmig gesungenen Taizéliedern die Kirche ertönen. (5.10.24) 

 

Von der Hauptstrasse Cagliari - Iglesias weg nach Süden fahren wir eine Stunde lang kurvig durch wunderschöne, grüne Wälder, bis wir Porto Pino erreichen. Vier Kilometer im Hinterland, weg vom Strandrummel, der am Sonntag noch gross ist, finden wir unsere Ruhe auf dem Agrocamping Il Ruscello.

 

In der Mittagspause unterwegs buche ich mir eine Fähre bei Grimaldi von Porto Torres nach Civitavecchia. Die neunstündige Fahrt kostet gerade mal hundertfünfundsiebzig Franken mit samt Womo. Spezialangebot (6.10.24)

 

Abseits von Porto Pino gibt es hohe Sanddünen, auf die wir nach einer durch eine Militärübung bedingte Wartezeit steigen und die Aussicht aufs Meer und das Hinterland auskosten. (7.10.24)

 

Seltenes Ereignis. Heute ist Regen und Sturm angesagt. Wir fahren trotzdem hundertsiebzig Kilometer bis zur Reiskörnerküste Is Arutas. Wir werden verschont. Nach einem Platzregen ist der ganze Sturm, der nördliche Teile Italiens trifft, vorbei. Die Reiskörner sind durch das ständige Drehen durch die Meereswogen nach zehn Jahren merklich kleiner geworden (8.10.24).

 

Mit dem Bike erreichen wir Tharros, die Ruinen von Nuraghern 9.Jh vor Chr, Carthagern 7.Jh. vor Chr , Römern 1.Jh vor Chr, Spaniern Katalanen 16.Jh nach Chr. Unser Tagesziel liegt aber mitsamt dem Womo in Alghero auf dem riesengrossen Camping Laguna Blu. (9.10.24)

 

Bewölkung und rastloser Wind verschaffen uns einen Ruhetag in Alghero. Nach sechs Kilometern per Bike sind wir bei der Stadtbesichtigung. Es gibt ein paar hübsche Strässchen nach katalanisch-spanischer Bauweise. (10.10.24)

 

Meine Freunde müssen am Abend in Porto Torres auf die Fähre nach Genua fahren. Sie lassen es sich nicht nehmen, mit den Bikes noch nach Porto Giglio zu fahren. Hier entdecken wir, der Schriftsteller vom «Der kleine Prinz», Antoine de Saint-Exupéry, hat hier die letzten Monate seines Lebens verbracht und seinen letzten Geburtstag gefeiert.

Einen Teil der Wartezeit danach verbringen wir am Strand «Cala dei Pini». Das Meer im Norden von Sardinien hat sich deutlich abgekühlt.

 

Auf der «Spiaggia Punta Negra» verabschieden wir uns nach zwölf freundschaftlich erlebten Tagen. Yara, Ramon, Franziska und Kornel werden bald wieder ihre Familienmitglieder Dario und Adrian in der Schweiz begrüssen. Ab der Schweizergrenze im Tessin fährt Ramon das Teil zum ersten Mal und bis nach Hause in Eggersriet(11./12.10.24)

 

In Alghero kaufe ich das letzte Ticket für eine Bootsfahrt zur Neptungrotte und hüpfe auf das Boot. Keine Wartezeit! Das Boot umrundet als Zugabe die Isola di Foradada. Danach ist die einzig vorhandene Anlegestelle zur Neptungrotte frei.

Ein imposantes Naturwerk von Stalagmiten und Stalaktiten. Kunstvoll geformte Kompositionen, wo man hinschaut. Tropf für Tropf Launen und Fantasien der Natur. (14.10.24)

 

Ich bike noch einmal über die Neptungrotte zu einer wunderbaren Aussicht auf die schroffen Felsen und das Meer. Alles so blau wie mein Tuareg-Turban. Auf dem Rückweg besuche ich das Museum von Saint-Exupéry in Porto Giglio. Jetzt will ich es wissen. Wieviel Italienisch kann ich von einer ausgefeilten Schriftstellersprache verstehen? Ich kaufe mir in Alghero das illustrierte Büchlein «Der kleine Prinz» und beginne bald mit Lesen.

 

In der einen Hand das Büchlein, in der anderen Hand das Handy. Der Google-Übersetzer hilft mir Passagen richtig zu verstehen. Es kommt zu lustigen Situationen. Ich spreche folgende Worte aus Kapitel IV: «Perché non mi piace che si legga il mio libro alla leggera.» Der Übersetzer schreibt was er hört: «Perché non mi piace che si lecca il mio libro alla lettera.» und übersetzt richtig: «Darum mag ich es nicht, wenn man mein Buch im wahrsten Sinne des Wortes ableckt». Der Dichter aber schreibt: «Darum mag ich es nicht, wenn mein Buch leichtfertig gelesen wird.» (16.10.24)  

 

Wahrscheinlich beeinflusst durch die Lektüre «Il Piccolo Principe» finde ich es schon spannend, mich auf der Insel herumzutreiben. Anderseits habe ich ein komisches Gefühl beim Verlassen der Insel auf der Grimaldi Fähre. Was, wenn es diese Fähren nicht gäbe. Ich möchte gern das Festland erreichen, wenn auch heute nach Mitternacht. Ich bin aber ganz auf Gedeih und Verderben auf diese Ungetümer angewiesen…

 

Hei, wer definiert denn eigentlich, was eine Insel und was Festland ist. Mit wieviel Quadratkilometern ist ein Land eine Insel, umgeben von Wasser und mit wieviel Quadratkilometern ist ein Land ein Festland, umgeben von Wasser. (Porto Torres NW Sardinien nach Civitavecchia NW Rom  17/18, Okt 24, 9 Stunden auf der Grimaldi-Fähre)

 

Von Civitavecchia aus fahre ich schnurstracks die achtzig Kilometer in den Norden der Stadt Rom, 00123, wo meine Bekannten Römer von Ferragosto 15.8.24 wohnen. Alle sind sie zu Hause und empfangen mich mit der Mamamia-Gastfreundschaft. Von einem Event zum andern werde ich weitergereicht und bedauert, dass sie ihrem Wochenendprogramm gemäss gar nicht alle überall dabei sein können. Eine Pizza verzehren wir bei den Nachbarn Ivana und Nicola, dem zweiten Ehepaar von der Begegnung in Il Vecchio Mulino.  (18.10.24)

 

Arnaldo und ich, wir bewaffnen uns mit Regenschirmen und fahren nur gerade zwölf Kilometer bis zur Piazza Republica in Rom. Von da aus kreuzen wir bis zum Trevibrunnen, zur Spanischen Treppe, zum Pantheon und vielem mehr. Der Eintritt zum Pantheon kostet fünf Euro. Mein Gastgeber stellt mich wie immer vor und sagt: «Das ist Padre Lorenzo». «Der geht gratis rein!» antwortet die Aufseherin. (19.10.24)

 

Christus hat einen protzigen Altar im Petersdom bekommen. Der «Altar des Vaterlandes» aber zu Ehren des Emmanuele II. übertrifft den bei Weitem. Mussollini hat ihn auf seinen Faschismus umdeuten lassen. (21.10.24)

 

Nach diesen freundschaftlich verbrachten Tagen fahre ich nach Orbetello, genauer nach Gianniello, auf der anderen Seite der Brücke, die Orbetello mit Monte Argentario verbindet. Leider regnet es mich hier unaufhörlich in die Kabause. Eine Regenpause lässt mich siebenundzwanzig Kilometer Biken, aber auch keine hundert Meter mehr.

Da die Wetteraussichten für einige Tage auf Regen stehen, bringe ich mein Womo und mich nach Saturnia. Mich faszinieren diese Sinterterrassen, die über Jahrtausende durch ewiges Versprühen und sanftes Rieseln von schwefel- und kalkhaltigem Wasser entstehen. So fantasievoll in- und übereinander geschichtet wie es nur die Natur versteht! Für uns Touristen und Einheimische eine Freude in diesen naturwarmen (37.5 Grad) Wasserbecken unter freiem Himmel zu planschen. (24.20.24)

 

Die Grosswetterlage bleibt regnerisch. Die Flüsse steigen an. Nachdem ich von Saturnia fünfzig Kilometer weit auf engen Hügelstrassen im Nebel gefahren bin, entscheide ich mich bei Grosseto in der Marma zielstrebig die Schweiz anzupeilen. Der Entscheid fällt mir nach fast fünf Monaten Italien nicht schwer, da mir Freunde aus der Schweiz herrlich farbige Herbstbilder schicken. In Italien gibt es Ende Oktober nur Grün im Malkasten. Ich mag ja Italien den vielen Regen gönnen, aber an Herbstfarben mangelt es total.

Die Nacht verbringe ich auf dem Autobahnparkplatz Bastelli auf der A1 zwischen Parma und Piacensa, dem Überflutungsgebiet in der Emilia Romana. Die Lastwagen rauschen die ganze Nacht auf der einen Seite, die Superschnellzüge zischen auf der anderen Seite vorbei. Ja, es hört sich an wie Meeresrauschen mit Zimmer auf die Meerseite hin. Für mich geht das prima, weil ich immer und überall gut schlafen kann.

Gegen unerwünschte Gasüberfälle aktiviere ich den Gasmelder, den ich schon viele Jahre nicht mehr eingeschaltet habe. Der verstorbene Womochef Wendelin Ellenrieder hatte mir damals «für alle Fälle» diesen Gasmelder geschenkt. Mit Piepsen gegen Haar- und Achselspray hat diese Anlage früher manche Gäste erschreckt.  

 

Du erinnerst dich an die Mechanikerfamilie, die mir auf dem Camping Belvedere in Le Morge versucht hat, die Stabilisatoren wieder in Gang zu bringen und die mich zum Gottesdienstbesuch am Sonntag in Maria dei Miracoli animiert hat? Als ich gerade zum Schlusssegen in die Kirche kam? Das war vom 24.- 25. August 2024 in Le Morge. Ich versuche diese Familie in Cesano Maderno, nördlich von Mailand zu besuchen.

 

Obwohl die Strassen um Mailand herum sehr windungsreich mich orientierungslos verwirren, finden meine zwei GPS Geräte das Haus und die angebaute Autowerkstatt auf Anhieb. Maria Luisa, Ricardo und Matteo sind zu Hause. Emanuele weilt mit seinem Vater Gioancchino in Bologna an einer Autoausstellung. Grund, das Mittagessen hier gemeinsam einzunehmen und auf die Ausreisser bis am Abend zu warten. Auch mit ihnen gibt es ein frohes Wiedersehen. (26.10.24).

 

Fünf Monate Italien! Mich selber freuen die tausendzweihundert Fotos, die ich dir auf meiner Webseite zur Verfügung stelle. Seit Juni ist zweitausendfünfhundert Mal daraufgeklickt worden. Selber schaue ich mir diese Fotos dann und wann von Anfang bis Schluss an. Ich werde dann ganz still und dankbar vor Staunen über das Erlebte.

Angesichts der Fotos entsteht vielleicht der Eindruck, man würde in Italien fünf Monate lang von einer Schönheit zur andern, von einer Sehenswürdigkeit zur andern, von einem Naturwunder zum andern gereicht. Bei Sechstausendfünfhundert gefahrenen Kilometern gibt es erlebnismässig auch manche Leerstrecken.

 

Achja, da fehlt noch ein Wort zum Wohnmobil. Zu seinem Test bin ich losgefahren und es hat mir sehr viel Freude bereitet. Einzig die Stabilisatoren haben ihre Tätigkeit eingestellt. Und die ewige Geschichte mit der schwimmenden Batterie hat mich ein paar Mal nicht starten lassen. Ein Mechaniker hat dann einen vier Millimeter Hartgummi zwischen die Halterung und Batterie eingeklemmt. Seither starte ich pünktlich, aber muss die Halterung beobachten. Schon drei Mal hat sich dieser Gummi davongemacht. Ja und da war doch noch die Abdeckung die ausgerissen ist und das Kupplungspedal blockiert hat, so dass ich in einer unübersichtlichen Doppelkurve stehen geblieben bin. Abgesehen von all dem habe ich grosse Freude, ohne unsicheres Gefühl meinen Weg fortsetzen zu können.

 

 

Glücklich bin ich wieder über die Begegnungen von Mensch zu Mensch. Die Italienerinnen und Italiener sind mir allesamt sehr sympathisch begegnet. Jüngst hat mich eine Campingbesitzerin gebeten für sie und ihren Sohn zu beten, der seit zwei Jahren versucht, sich in Indonesien eine Existenz aufzubauen. Ähnlich kenne ich einige Geschichten über persönliche Anliegen, die ich in meinem Herzen weitertrage. So bleibe ich mit vielen Menschen innigst verbunden. Religiös offene, intakt gläubige Menschen sind mir in Italien erwähnenswert oft begegnet. Gott sei Dank.