Silvester 2011 Neujahr 2012   

Januar 2012

                             

Ich verbringe persönliche, familiäre Weihnachten bei meinen Geschwistern und Verwandten in Kriens und Rotkreuz. Zum ersten Mal seit über dreissig Jahren bei der Mitternachtsmesse im Volk sitzen, lässt mich auch auf diese Weise, Weihnachten friedvoll und getragen erleben. Am Stefanstag übernehmen mein Freund S und sein Sohn S die Gästeplätze in meinem Womo. Die Fahrt geht schnurstracks von Bern weiter nach Adge. Gegen Mitternacht ergeben wir uns dem Rauschen des Mittelmeers und den funkelnden Sternen. Meine Reiseengel schicken sofort eine Sternschnuppe als Willkomm vor einem menschenleeren, geschlossenen Camping. Sozusagen, den Stern von Bethlehem. Am nächsten Tag finden wir nach 1100km von Rotkreuz aus berechnet, wo ich tags zuvor gestartet bin, auf dem einzigen Stellplatz von Barcelona ein Bleiberecht.

Silvester 2011 in Barcelona. Mein Freund S und sein Sohn S und ich geniessen im Womo ein feines , vom Sechzehnjährigen zubereitetes und mit zartem Fohlenfleisch ergänztes, Risotto als Hauptspeise. Danach begleiten wir einander über die Rambla zum Hauptplatz wo zigtausende Menschen sich kurz vor Mitternacht einfinden. Ein frühzeitiger Jubelruf im alten Jahr wird von der Polizei streng kontrollierend geahndet. Ihre Personalien, bitte! Das betrifft aber einen anderen Ausländer neben uns. Glasflaschen, also zB Sekt-, Wein- und Bierflaschen sind auf diesem Platz verboten. Ein  Viertel vor Zwölf vermisse ich das Glockengeläute über der Stadt. Nichts zu hören. Per SMS vernehme ich, dass Charlie mit dem Läuten des Glöckleins von Halden in St. Gallen begonnen hat. Zuvor habe ich es dreissig Jahre lang am Silvester, Neujahr in Bewegung gebracht, damit es an den Segen Gottes über Stadt und Land erinnere. Fünf Minuten vor Mitternacht beginnt die Menge auf der Placa de Catalunya am Ende der Rambla in Barcelona in einer Richtung auf die Uhr eines profanen Gebäudes zu schauen und sie mit dem Handy oder Iphone zu fotografieren. Ziemlich verhalten wird das Neue Jahr in den kleinen Gruppen von Menschen, wie sie dastehen, begrüsst und Glück gewünscht. Fremde rundherum bleiben fremd. Etwa drei Minuten nach dem Neujahrsereignis löst sich die Menschenmasse in alle Seitenstrassen hinein auf. Es hat gerade mal gereicht, sich zu dritt ein gutes Neues Jahr zu wünschen, bevor die vergebliche Erwartung an ein südländisch brodelndes Neujahrsfest sich aufgelöst hat. Die vielen jungen Besucher aus Frankreich und Italien ergeben sich genauso sprachlos der blutarmen, barcelonischen Eigenart, das Neujahr zu begrüssen. Wirkt die Repression früherer Regime noch an? Wir drei Überraschten sind nicht fähig, für uns mehr daraus zu machen, als uns der unterkühlten Stimmung zu ergeben und wegzulaufen. Deutlich mehr wie drei, zu mindest vier oder fünf Raketen werden abgefeuert, dann kehren die erst jetzt erschreckten Mönchsittiche nach einem kurzen Wirrflug auf ihre gewohnten Palmenplätze zurück. Die Strassenfeger haben schon vor Mitternacht begonnen, die wenigen fallengelassenen Becher und Plastiktüten einzusammeln.  Ein deutliches Zeichen, was hier Sache ist. Kurz nach Mitternacht sind die Strassen nass. Nein, der Himmel leuchtet sternenklar. Die Nässe kommt nicht vom Regen, sondern von den Reinigungsmaschinen, die bereits eine Stunde nach dem Ereignis die Plätze und Strassen saubergefegt haben wie zuvor, als ginge es darum, eine peinliche Demonstration ungeschehen zu machen. Wirklich, wenn du eine saubere Stadt betreten möchtest, dann komm im Dezember/Januar nach Barcelona.

Man hat mir eingebläut, die Stadt sei total unsicher. Diebstahl an allen Ecken und Enden. Nach einer Woche totalem Sicherheitsgefühl durch die allgegenwärtigen Sicherheitskräfte ausgelöst, trage ich meine teure Rolex wieder am Handgelenk. Ich will nicht über die Stadt herfahren. Sie ist überall schön schräg! Meinem Freund S und seinem Sohn S, der sich nach ein paar gemeinsamen Tagen allein in der Stadt bewegt, gefällt die imposante Fünfmillionenstadt genauso gut wie mir. Wir erobern ein Quartier um das andere und staunen über die Ausstrahlung der Gebäude und der modernen Skyline am Strand, über die zweimal fünf Kilometer langen Einkaufsstrassen, über die immensen Plätze und Parks. Ich habe kaum je eine Stadt gesehen, die nicht nur im historischen Kern, sondern bis in fast alle Quartiere hinein, attraktiv wirkt. Dass diese Menschen es schon 1883 zugelassen haben, einen dreissigjährigen genialen Künstler-Architekten wie Antoni Gaudi mit einem versponnen Kathedralebau zu beauftragen, an dem heute noch gebaut wird und den täglich tausende von Bezahlenden besuchen, verblüfft mich total. Was danach Niki de Saint Phalle und Tingeli Gleiches im Tarotgarten in der Toscana und Hundertwasser in Wien geschaffen haben, wirkt für mich aus dieser Sicht wie eine Kopie des Meisters Gaudi. Naturbetrachtung und fundierte Theologie entfaltet Gaudi zu einem fantastischen Sakralbau. Wären die tausenden von schwatzenden Besuchern wegzufegen, wäre das für mich ein Ort feinster Kontemplation. Aber leider braucht die Fertigstellung des Baues und die gleichzeitig beginnende Renovation der alten Teile jeden Besuchereuro. Der an sich fromme Gaudi wird Gott im Himmel jeden Tag um Verzeihung bitten, dass die Leute nur seines, Gaudis, Werkes wegen zur Besichtigung, und nicht um der Anbetung und des Gebetes willen, in den Dom kommen. Dabei hat Gaudi gottergeben darauf geachtet, mit seinem hundertsiebzig Meter hohen Hauptturm, dem Christusturm, das Werk Gottes, den zweihundertdreizehn Meter hohen Hausberg der Barceloner, den Montjuic, nicht zu übertreffen! Das Genie hat sich vor dem Werk Gottes verbeugt.

Nun, ich berichte ja noch von der Neujahrsnacht! Zurück im Womo bekenne ich meinem jungen Begleiter bis andernorts der Hahn kräht allerhand Untaten aus meiner Studentenzeit. Es ist ihm wichtig zu hören, dass ich bei allen Gesetzesübertretungen, und das bis heute, immer darauf bedacht bin, niemandem - ausser vielleicht mir selber - zu schaden. Am Neujahrstagnachmittag drückt er mich beim Abschied auf dem Flughafen so lange und verbindend, bis mir die Tränen über die Backen kollern. Es ist kein Abschied ins Ungewisse, der schmerzt. Es ist ein zeitlich begrenzter Abschied von einem blutjungen Menschen, der es geschafft hat, während einer Woche, sich einer neuen Freundschaft zu öffnen. Ich bedauere bei dieser Erfahrung die vielen Eltern, die eine voreilig vermutete Furcht hegen, ihre Jungen in und nach der Pubertät aus der intimen Verbundenheit zu verlieren und fühle mich glücklich, einen weiteren jungen Freund zu kennen, der seinen Eltern innerlich aufs Herzlichste zugetan bleibt. Jetzt fliegt er zurück, zurück in die Zukunft, zurück in die Schweiz, zurück in die Zukunft seiner Berufsausbildung. Seit meinen Freundschaftsbesuchen in Deutschland kann ich über mein Glück, von Freundschaft getragen zu sein, wieder herzhaft weinen. Und so ist es auch an diesem Neujahrstag, ausgelöst durch das Bewusstsein und die Dankbarkeit, in nährenden Beziehungen zu leben. Während mehreren Kilometern zu Fuss bei neunzehn Grad Wärme dem Strand von Barcelona entlang kollern mir die Tränen fast so zahlreich wie es Wassertropfen in den blauen Buchten am Meer gibt. Noch am selben Tag wird die Leere der Neujahrsnacht in meiner Seele - begleitet von Taizégesängen im Womo - mit Dankbarkeit und Tränen frisch getränkt, wie wenn man eine junge Palme nach dem Setzen neu eingiesst.  Gott und mein Freund S sind mir Zeugen dafür. "Gott, lass meine Gedanken sich sammeln zu dir, bei dir ist das Licht, du vergisst mich nicht. Bei dir ist die Hilfe, bei dir ist die Geduld. Ich verstehe deine Wege nicht, aber du weist den Weg für mich!" (Taizélied nach D. Bonhoeffer) und "Behüte mich, Gott. Ich vertraue dir. Du zeigst mir den Weg zum Leben. Bei dir ist Freude, Freude in Fülle." (Taizélied). Worauf haben wir in der Neujahrsnacht mit tausenden Menschen auf der Placa de Catalunya mit Blick auf die Turmuhr nur gewartet und sind leer ausgegangen? Nicht in der Nacht, sondern am Nachmittag und am Abend erst hat mich sein Segen benetzt. Ich hatte nach dieser Neujahrsnacht keine Erwartung auf ein bewegendes Erlebnis mehr. Dann ist der Segen beim Abschied auf dem Flughafen vom Himmel gefallen und hat meine Seele erfüllt. "De noche iremos, de noche que para encontrar la fuente, solo la sed nos alumbra, solo la sed nos alumbra." "In dukler Nacht woll`n wir ziehen, lebendiges Wasser finden. Nur unser Durst wird uns leuchten, nur unser Durst wird uns leuchten." Da ruft meine Seele: "Sooou schööön! "

Nicht, dass ich aus meiner bisherigen Arbeit in der Schweiz keine Freunde hätte. Da gibt es viele. Aber meistens fehlte uns vor lauter Arbeit die Zeit, die wahren Gefühle füreinander aufkommen zu lassen. Das ist es, wozu ich durch die Pensionierung jetzt befreit bin. 

Einige SMS und Telefonate aus Freundschaften kann ich heute empfangen und senden. Schön, diese Verbundenheit durch die Technik. Dann aber, bevor die Sonne am Strand von Barcelona untergeht, geht bei mir gar nichts mehr. Auf dem Konto sind noch 0,41 Cents. Dabei wollte ich doch noch..... Durch den Tränenflohr vor meinen Augen hindurch lese ich vor meinem Womo auf Katalanisch die Leuchtreklame, die schon alle Tage dagestanden hat, ohne mir etwas zu sagen:  "El 90% de la poblacio té la maxima cobertura 3G". Frei übersetzt und verdeutlicht: "Etwa neunzig Prozent der Bevölkerung geniesst die Verbindungen des Internet durch 3G". Überall diese leeren Versprechungen. Wie viel zuverlässiger und inniger sind da die Verbindungen im Geiste mit Lebenden und sogar mit Verstorbenen? Verbindungen, die keines Kontos und keiner technischer Tricks bedürfen. Spürst du manchmal, wie sehr ich an dich denke? Ja doch, ich spüre deine Verbundenheit auch. Darin lasst uns auch im Neuen Jahr 2012 verbleiben.

 Noch beim Abendessen am Neujahrstag, Fischstäbli und Salzkartoffeln mit Trockenpetersilie im Womo, entscheiden S und ich, die hundert Kilometer südlicher gelegene Stadt Tarragona, eine Weltkulturerbestadt, zu besuchen und uns dann gegen Ende der Woche zu trennen. Mein Freund S muss zurück zur Arbeit und ich spüre das tiefe Bedürfnis, geruhsam in Spanien zu verweilen, mich und mein Womo ohne Sprachkenntnisse eine Zeit lang durchzufüttern. Dagegen sprechen gefühlsmässig nur die Einladungen von Freunden zu Skitouren in der Schweiz, die ich später einlösen will. Dort ist der Schnee in lawinengefährlichen Mengen gefallen, während wir in Barcelona bei neunzehn  Grad Wärme über Silvester Neujahr am Strand im Sand liegen und jetzt in Tarragona noch ins Meer steigen. Kurz aber erfrischend. Ausser Saison lassen sie uns hier direkt am Strand parken, am Womo die Beine hochziehen und die hydraulische Pfahlbauerhütte errichten.  Die Stadt Tarragona kommt uns eher interessant wie schön vor. Es ist aber eh Zeit, die aufmerksamen Sinne etwas ausruhen zu lassen. Mein Freund S widmet sich an diesem schönen Strand sogar locker und zufrieden dem Jusstudium. Die Sonnenauf und -Untergänge toppen sich von Tag zu Tag.

Das Dreikönigsfest beginnt in Tarragona mit einer Vigil. Traditionsbewusste Familien treffen sich auf dem Brunnen-Festplatz. Leider verpassen wir aus Unkenntnis dieses Brauches, was hier geschieht. Wir sehen erst nach dem Fest die Eltern Dreikönigskuchen für den 6. Januar nach Hause tragen. Für uns ist es Zeit, am Dreikönigstag Abschied zu nehmen. Stefan besteigt in Barcelona ein Flugzeug, um bald zu Hause die Arbeit und den Alltag wieder aufzunehmen. Ich komme mir vor wie nach meiner Fahrprüfung vor fünfundvierzig Jahren. Einerseits die Freude allein fahren zu dürfen. Anderseits zu spüren, da sitzt niemand mehr neben dir. Bist auf dich angewiesen in einem Land, dessen Sprache du noch nicht kennst. Auf ins Abenteuer! Ich habe noch keine Lust in die gegenwärtig wütenden Winterschneestürme im Norden zurückzukehren. Mich zieht`s immer mehr südwärts an der Ostküste Spaniens entlang. Die heiligen Drei Könige stimmen diesem ihnen unbekannten Weg von Herzen zu. Ist es Zufall, dass bei diesem letzten Satz bei mir das Lied ertönt: "Toi, tu nous aimes, source de vie". "Du, du liebst uns, Quelle des Lebens". "Tu nos amaste, fuente de vida."

 

     

 Januar 2012 -Teil 2                                                                            

Auf der Fahrt von Bacelona Richtung Valencia kitzeln erst die gewaltigen Reisfelder und Oragenplantagen meine Sinne, um nicht die Frauen zu erwähnen, die auf Platikstühlen über Kilometer hinweg an den Strassen sitzen und sich selber, an Stelle von Orangen verkaufen. Sie tun das so lustlos, dass mir eine Orange lieber wäre.

Was ich nach dreihundert Kilometern bei der Einfahrt in Valencia an Stadtbauten sehe, ist respektabel. Unvermittelt fahre ich zum hochmodernen Museums- und Aquariumsgelände und halte vor der Plaza Europa, an einer befahrenen Strasse zu einem offenen Park hin. Da finde ich sogar einen gebührenfreien Parkplatz. Mein Fotoapparat tanzt und dreht und klickst sich um die Gebäude herum. Fantastisch im wörtlichen Sinne. Nach einer halben Stunde ist es Zeit für eine Spanischlektion. Diebstahl heisst susstraccion, Anzeige heisst denuncio. Ich werde zum Denunzianten. Auf dem Boden meines Womos liegen einzelne Tüten und Verpackungen. Der Inhalt ist weg. Das einzig total verschraubte Fenster ist aufgebrochen. Im hinteren Schlafbereich ein Vorhang heruntergerissen, um in Ruhe arbeiten zu können. Was ich an technischen Geräten nicht gerade auf meinem Körper trage, ist so ziemlich alles weg. Die Fächer sind alle sorgfältig verschlossen, damit ich das Ausmass des Verlustes erst türchenweise erfahren muss. Gleich einem Adventskalender, nur dass die Überraschungen negativ sind. Lieb gedacht von den Leuten und ausser dem ausgerissenen Fenster, das ich selber wieder reparieren kann, mein Schwager hat mich ja mit allerhand Werkzeug ausgerüstet, und dem heruntergerissenen Vorhang, ist nichts geschlissen. Kompliment! Überhaupt sind die Täter nachsichtig. Vor zwei Tagen, bevor ich in Barcelona wegfuhr, habe ich alle Daten und Fotos auf ein externes Laufwerk gesichert. Auch alle zweihundert Namen der e-mail Adressen habe ich mir für den Fall des Falles ausgedruckt. Dieses Laufwerk haben sie in Händen gehabt und wieder zurückgelegt!! Vor Freude darüber bin ich ihnen beinahe mit dem Ladekabel und dem Accu zum Drucker nachgerannt, um mich mit diesen Utensilien, die sie vergessen haben mitzunehmen, für meine verbleibenden Restdaten zu bedanken. Feine Kerle, diese Strassenfeger! Wie rufe ich jetzt die Polizei, weiss ich denn die Nummer? In welcher Sprache werden die mich verstehen und überhaupt ernstnehmen? Zu diesem nächsten Schritt verlasse ich das Womo, um mich nach hilfreichen Passanten umzuschauen. Siehe da, auf der anderen Strassenseite beendet ein Polizist gerade seine Arbeit mit einem geplünderten PW. Er schliesst sofort sein Auto ab (! macht mir grossen Eindruck!) und begleitet mich zu meinem, seinem nächsten Schadenfall. Als ich ihm bestätige allein zu sein und auch kein Navi mehr zur Verfügung zu haben, offeriert er mir, hinter ihm herzufahren. Ohne Blaulicht, fährt er langsam, fast nervig langsam, um wahrscheinlich meine Nerven zu schonen, über weite Kreisel und immer enger werdende Strassen hinweg zum Polizeirevier, wo die Polzeibikes kreuz und quer auf dem Gehsteig stehen und ich mein Möbel mangels Parkplatz oder Innenhof auf der Strasse vier Autos blockierend stehen lassen muss. Drinnen geniesse ich dank meiner Polizeibegleitung sofort den unvergleichlichen Vorteil, vor allen fünfzehn bis zwanzig sitzenden, stehenden, wartenden Menschen, direkt an ein Schreibpult delegiert zu werden. Die Beamten beraten sich kurz wegen meines sprachlichen Unvermögens und bitten mich, eine Zelle weiter zu hüpfen, wo es sogar einen Stuhl für mich und einen Telefonappart gibt. Upps, schon holt sich der Polizist von Zelle eins seinen einzigen Kugelschreiber wieder bei mir ab, den ich – unbewusst, was glaubst du denn! –  zur Zelle zwei habe mitlaufen lassen. Am Telefon kann ich meine Denunziation auf deutsch aussprechen, der andere schreibt und schreibt, irgendwo. Als ich den Unsichtbaren für sein perfektes Deutsch lobe und ihn noch um einen Gefallen bitte, sagt er: „Nein, ich kann Ihnen nicht sagen, wo es in Valencia Campingplätze gibt. Ich befinde mich in Madrid!“  Meine Anzeige schickt er per Internet umgehend meinem jetzt wieder physich anwesenden Gegenüber zu. Der druckt es aus, damit ich es unterschreibe. Aber wohin jetzt? Draussen hat die frühe Winternacht schon alles eingeschwärzt. Ich frage noch meinen Beamten von Zelle zwei. „In Valencia gibt es keine Campingplätze“, antwortet er. Und schon kommt ein Lauscher um die Ecke mit einem Heft in der Hand, worin in einer Entfernung von 7,5 bis 13,5 Kilometern vom Zentrum, acht Campingplätze aufgeführt sind. „Darf ich davon eine Fotokopie haben?“  Leider nein, aber er gibt mir ein Blatt Papier – mit dem offiziellen Briefkopf der Polizei – und ein Bleistift, um die Daten abzuschreiben. Auch gut. Wie aber im Dunkeln allein den Weg finden? Das Navigationsgerät ist weg, das Ipad auch. Da gibt es aber noch das Iphone am Mann. Darauf habe ich für hundert Franken eine exakte Europakarte, die I go primo heruntergeladen, die offline arbeitet, also ohne Internet, aber mit GPS Führung. Sternen und Satelliten gibt es genug am Himmel. So fahre ich denn, die linke Hand am Steuerrad, in der rechten Hand das Iphone und den Gangknüppel ohne den Verkehr zu behindern zum Camping in El Saler. Jetzt habe ich eine Rösti mit Salami und Käse verdient.  Nachts gibt es zwei Unterbrüche. Der Wein will in umgebauter Form raus. Wenn ich wach bin, kreisen meine Gedanken um die Sicherheit meines verbleibenden Hab und Gutes. Welche meiner gespeicherten Daten auf dem PC und dem Ipad werden dem künftigen Besitzer Freude und Reichtum bedeuten? Von welchen Konten und Guthaben wird er die Diamanten für seine Freundin bezahlen? Wie kann ich all das noch verhindern? Welche Codewörter werde ich ändern müssen? Reicht das morgen noch, oder ist er schon am Werk?

Das erledige ich nun bei Tagesanbruch und der ist erst so um acht Uhr. Vorher scheissen mir auch die Vögel nicht aufs Dach. Erst am Morgen sehe ich, wie sich die Bäume bei meiner Einfahrt gestreckt haben müssen, damit ich unten durchkam, wo ich jetzt stehe. Meine Versicherung versichert mir auch ohne die unterschriebene Denunzitation der Polizei zu glauben und verlangt sie später doch.  Ich stecke eine noch vollständigere Liste, als ich es gestern wusste, von gestohlenen Sachen mitsamt meinen Kontoangaben in ein Couvert. Beim Tabakhändler in El Saler bin ich eine halbe Stunde zu früh, um eine Marke zu kaufen und er kommt eine halbe Stunde zu spät. Das macht insgesamt eine Stunde warten. Bevor er seinen Tabakladen aufmacht, hilft er seinem etwas baufälligen Vater ein Trainingsgerät in einen Van verladen. Ich packe ohne Worte mit an. Geht ja flott und der Vater, der seine übrigen Knochen schonen kann, bedankt sich sehr. Jetzt endlich die Marken! Der Händler klebt sie eigenhändig, bedächtig millimetergenau an die obere Ecke, als ob er sich dabei etwas Wichtiges überlegen müsste. Dann sagt er: „Das kostet jetzt nichts“ und lächelt. „Das ist deine Art, Böses mit Gutem zu vergelten“, kopfe ich meiner fröhlich lächelnden Seele auf die Schultern.

Meine Seele klopft zurück und fragt: „Brauchst du all das Zeug, das dir gestohlen wurde wirklich? Willst du alles ersetzen? Spürst du nicht, wie frei du jetzt bist, wo dir nichts mehr, fast nichts mehr –nur noch das Womo -, gestohlen werden kann?“  „Wie bitte soll ich denn künftig meine Berichte schreiben?“ „Von Hand wie jetzt. Du hast ja schon drei Seiten geschrieben, damit dir nichts entgeht.“ „Ja gut, aber ein neues Navi brauche ich bestimmt. Ich kann ja nicht einmal bei Sonnenschein unterscheiden, wo Ost und West ist, geschweige denn wie jetzt, wo der Himmel erstmals für mich in Spanien voller Wolken steckt“.  „Ok, wenn du das weiterhin nicht lernen willst, bleibe halt abhängig. War ja nur gut gemeint von mir“, sagt`s und schweigt. Ist aber auch Zeit. Meine Seele hat den für sie beglückenden Augenblick abgewartet, mich an den franziskanischen Verzicht zu erinnern. Dabei weiss sie doch als Erste, wie sehr ich die Technik liebe, ... wenn sie funktioniert.

Meine Seele hinkt dem Geschehen etwas hinterher. Ich bin nämlich fünf Kilometer zum Media Markt gebiked, um mir ein Navi zu kaufen. Mein Wunschnavi ist ist nicht am Lager, auch nicht in einem Media Markt auf der anderen Stadtseite. Da bitte ich die Dame an der Information zu bewirken, dass ich hier in Alfafar das Ausstellungsnavi bekomme. Sie versteht mich, ohne ein vernünftiges Wort von mir zu hören, und tuschelt am Telefon mit dem Verkäufer. Der ist einverstanden und offeriert es mir stolz für zwanzig Euro günstiger. Ich bedanke mich. Er putzt und verpackt es fein und lange, als ob er sich was Wichtiges überlegen müsste und sagt dann: „Dreissig Euro billiger!“ Wie ist die Welt doch auch in Valencia noch in Ordnung.

Das neue GPS macht zusätzlich mehr Freude und Sicherheit, da ich ihm zur Planung die Daten meines Womos eingeben kann: Länge 8,5m, Breite 2,21m, Höhe 3,35m, Gewicht 6,7t. Das Navi versucht mich jetzt nur passende Strassen zu führen und findet  sogar die Campingplätze als Points of Interest. Interessant. Ich sollte mich für die Ent- und Verwendung des alten Navi bei den Einbrechern wirklich bedanken. Das Neue dient und spasst mich mehr.

Vier Tage später bin ich nun dabei, mein Handgeschreibsel in das neue Laptop zu tippen. Das neue Microsoft Office und Windows gibt es hier nur auf Spanisch und so lerne ich denn die spanische Computersprache, bevor ich weiss, was Erbse und Bohne heisst, um mich gegen sie zu wehren. 

Glaub`nicht, ich hätte jetzt immer diesen technischen Sachen nachgehangen. Nein, ich habe mir zwischendurch Zeit gelassen und bin durch die gefluteten Reisfelder und tiefbewachsenen Sumpfwälder gebiked. Den Silver- und Graureihern zuschauen, wie sie abends ihre Flügel zum Sonnengebet weiten und sie beschaulich schwingen. Auf den Dünen am Meer dem Sonnenuntergang zulächeln. Musik im Ohr. Die Natur ist es, die so vieles wieder gut macht. Auch e-mails und SMS, die mir von Freundinnen und Freunden zugeschickt werden, begleiten mich. Um aber mit allen wieder Kontakt aufzunehmen, muss ich die über zweihundert Adressen wieder finden.

Am 15. Januar 12 erreicht mich die Nachricht, meiner Schwester Helen gehe es nicht gut. Bauchspeicheldrüsenprobleme. Ich entschliesse mich auf der Stelle nach Vilters zu fahren. Der Abschied auf dem Camping in El Saler wird emotional. Der Campingchef und sein bolivianischer Nachtwächter nehmen rührend Anteil, als ich ihnen auf die Frage, ob ich jetzt nach Malaga weiter in den Süden fahre, von der tragischen und traurigen Nachricht und meinem Entschluss erzähle.

Mein Womo schleppt mich auf den Autobahnen von Valencia 750km nördlich nach Fontanès bei Nimes. Meine früheren Nachbarinnen von Vilters sind nicht anwesend, freuen sich aber über den Anruf, dass ich da bin, wo sie sonst sind. Nach weiteren 650km bin ich tags darauf in Bern/Horst und am dritten Tag nach 200km in Vilters. Solche Strecken wolllte ich eigentlich nicht herunterraspeln, sondern beschaulich von Ort zu Ort wechseln. Dann kommt es anders.

Meine Schwester Helen ist von ärztlicher Seite in guten und kooperativen Händen. Sie und wir schätzen es sehr, dass ihr Sohn und ihre Schwiegertochter als Ärtze die Diagnosen und Entscheide mittragen. Ende Januar soll ein MRI weitere Klärung bringen. Im Jubiläumsgottesdienst des Kirchenchores von Vilters wird der Verstorbenen ihres Vereins gedacht. So auch meines, unseres Bruders Markus. Markus ist am 6. Mai 2007 verstorben. Meine Gefühle geraten in Wallung.

In der Zwischenzeit hilft mir mein Schwager die neuerstandenen technischen Geräte aufzurüsten. Wau, die zweihundert e-mail Adressen sind wieder zurück gewonnen! So kannst auch du an meinen Reiseberichten wieder Anteil haben und ich schreibe gerne für dich.