Reisebericht Oktober November 2011

 

"Ich spüre, dass Du Deine Reise angetreten hast, es ist ja egal, wo Du Dich geografisch befindest.Dein Womo hatte wohl etwas Angst davor,mit Dir auf grosse Reise zu gehen, bevor ihr euch richtig gut kennengelernt habt. Das ist ja eigentlich ganz vernünftig und alles weitere wird bestimmt locker." schreibt AW.

So ist es für mich.

Meine jüngste Reise ist, da ich mich noch immer in der Schweiz aufhalte, literarischer Natur mit Nicolas Bouvier, Die Erfahrung der Welt, Leonos Collection 2001, 2010. Für mich ein sackspannendes Buch einer Reise von zwei Freunden von Genf via Istambul bis Afganistan in einem Fiat Topolino. Ich könnte mein Womo räumlich in mehrere solcher Topolinos zerlegen, vielleicht käme ich dann weiter. Eine theologische Reise mache ich mit Christian Rutishauser, Christsein im Angesicht des Judentums, Echter-Verlag 2008. Dieser junge Jesuit, bei dem ich anfangs Jahr Exerzitien gemacht habe, hat auch ganz schön was drauf. So finde ich denn auch beim Lesen wieder einen Faden wie zu Studienzeiten, nur das geruhsam in meinem Womo und ohne mich auf Prüfungen vorzubereiten, wie es ein paar meiner jungen Freunde tun. Du erinnerst dich, wie ich in meinem ersten Bericht meine Schwester Theres um ihre Musse beim Lesen in den Dolomiten beneidet habe? Jetzt habe ich diese Musse gefunden.

 

Pannenfrei bin ich durch den San Bernardino nach Tenero/Locarno gelangt und zurück. Damit dürfte das Ende der Pannenzeit angesagt sein. Die Sonne geniessen und Wärme auftanken im Tessin. Feines Essen auf dem Tisch im Freien. All das ist im Oktober noch möglich. Einige Bekannte erspähe ich am Bodensee und am Lago Magiore. Im Gespräch vernehme ich, entweder sie, oder jemand aus der eignen Familie, leidet an Krebs und darum brauchen sie diese Entspannung an schönen Orten so dringend. Sind alle Promenaden voll mit krebskranken Menschen? Ich bin mit ihnen verbunden und sehr dankbar für meine Gesundheit.

 

Jetzt kommt wieder der Dreh! Ich erlebe mit dem in St. Gallen gehabten Jugendarbeiter und seiner Familie eine Zeit auf dem Jahrmarkt an der Olma. Gnadenlose Kurven auf einer verrückten Achterbergundtaldrehbahn. Erstaunlicherweise verbleiben die Magenbrötli im Magen, die Hirnwindungen aber geraten bedrohlich durcheinander.

Dem täglich zähen Nebel am Bodensee und in St. Gallen entkomme ich im sonnigen Sarganserland. Viele Jahrzehnte sind es her: ich schüttle wieder einmal Äpfel vom Baum, helfe sie auflesen und zur Mosterei bringen. Ein feiner Saft. Und jetzt wieder der Dreh! Anderntags fällt Schnee bis fast ins Tal runter! Die Elektroheizung steigt bei 4 Grad Aussentemperatur aus und lässt mich bei 11 Grad Innentemperatur am Morgen erwachen.  Ich werfe die Dieselheizung Webasto an und heize zusätzlich wieder mit Gas. Siehst Du? Ich habe vorgesorgt. Bin zwei Mal abgesichert gegen Heizpannen. Und schliesslich liesse sich unter dem Womo auch ein prächtiges Kohlefeuer entfachen! Zuvor studiere ich aber nochmals gründlich die Bedienungsanleitung und entdecke, wie ich diese Pein verhindern kann. Als ich mich eine Woche später bei vierzehn Grad wieder fast etwas unbehaglich fühle, entschliesse ich mich erneut, den Fachmann in Arbon zu befragen. Treffer. Der Kerl sieht sofort, dass sich die Heizflüssigkeit in meinem Heizsystem verflüchtigt hat. Wohin nur? Auch das sollte nicht vorkommen. Nun ist sie nachgefüllt und die Pumpe bringt wieder Wärme in alle Kammern und Stockwerke.

 

Nach dem grossen Schneefall lachen wieder der blaue Himmel und die wärmende Sonne. Zeit mitzuhelfen, bei meiner ältesten Schwester den grossen Garten wintertauglich abzuräumen. Das bringt Freude für sie und mir das Gefühl von Brauchbarkeit. Allerdings verstehe ich nichts vom Gärtnern und zwicke fast alles, was da steht,  auf Bodenebene ab. Meine Beinmuskeln spüre ich erst nach einer Bergwanderung mit neunhundert Höhenmeter Auf- und  neunhundert Abstieg. Bei all dem halten meine früher arthrosequietschenden Knie flott durch.  An einem andern Tag helfe ich mit Mundschutz maskiert im ehemaligen Elternhaus ein altes Büscheliholzlager entstauben, das die Holzwürmer ohne Angst vor dem jüngsten Tag, der für sie nun angebrochen ist, zerfeinert haben. Bei meinen Geschwistern und Schwägerinnen in Vilters ergeht es mir wie den Stopfenten. Kommst du zum Mittagessen, zum Abendessen? Aber noch bin ich unter achtzig Kilo. Dank für die feine Kost! Ich werde wohl erst, wenn ich das Sarganserland verlasse, erfahren, ob meine eigene Küche noch funktioniert.

Bevor ich das Weite suche, muss ich den ärztlichen Test für die Fahrerlaubnis bestehen. Für den C1 Ausweis bis 7,5 Tonnen wird man in der Schweiz bis 70 alle drei Jahre dazu aufgeboten, dann alle zwei Jahre. Der Arzt im Kanton Zug meint, aus ärztlicher Sicht steht Ihnen nichts im Wege, das Wohnmobil weiterhin zu steuern.

Wenn ich nach ein paar sesshaften Tagen irgendwohin wegfahre, kommt in mir das Kribbeln eines Fahrenden auf. Herzflattern. Wann gehts hinaus in die Weite? Am 9. November beginne ich eine Deutschlandtour. Theologen besuchen in Mainz! JN nimmt sich sofort Zeit. Andere sind leider abwesend. Die in Blau gehaltenen Chagall Fenster in der Stefanskirche wahrnehmen. Und bald einmal ist der Nebel über dem Rhein weg, so dass wir die unzähligen Schlepper sichten.

Beim Besuch in Essen wird mein Kohlegrubenbild durch den grossen Naherholungsbereich in frischer Luft und bunten Wäldern entlang dem Baldeysee an der Ruhr gründlich ersetzt. Das Industriellen -Schloss des Stahlriesen Krupp, die Villa Hügel im weiten Waldpark, erweitert mein Wissen über die Industrialisierung und die sozialen Bemühungen im neunzehnten Jahrhundert. Ein gewaltiges Familien Imperium. Im Gruga Park, der fünfzehn Hektar umfasst, gibts nebst den Baumgruppen auch Gewächshäuser aller Art und Gebäude für gesellige Anlässe, ein Hundertwasserhaus für krebskranke Kinder und ihre Familien. Da zieht am 11. November bei Dunkelheit grad der Heilige Martin hoch zu Pferd ein und die kleinen Kinder freuen sich, ihn mit Lampions zu begleiten . Ein- oder zweitausend Menschen ziehen in den Park ein. Viele mit einer Riesenbrezel um den Hals gehängt.

In Berlin-Köpenick sind meine Gefühle ganz befangen. Seit den Siebziger Jahren habe ich in der ehemaligen DDR alle zwei Jahre wieder FreundeInnen  besucht und bin drei Mal mit jugendlichen Burschen und Mädchen dahin gefahren, um sie am Reichtum dieser Begegnungen teilnehmen zu lassen. Und wieder erlebe ich die selbe Gastfreundschaft. Auf dem Stellplatz, wo noch alte Trabis und Wartburgs herumstehen und die Gebäude teils noch schläfrig wie damals auf alle Seiten nicken, weht mir Herzlichkeit und Hilfsbereitschaft vom Campingwart und von Garagisten von herzerwärmender Art entgegen. Bei dem Wort Garagist wirst du natürlich hellhörig. Was ist jetzt wieder los? Eigentlich habe ich mich nur erkundigen wollen, wo ich die Umweltplakette für mein Womo herkriege, damit ich in die Stadt hineinfahren darf. Die Garagisten sind noch nie vor dieser Frage gestanden, weil sie es nur mit PWs zu tun haben. Statt mich abzuweisen, beraten sie sich und telefonieren in der Gegend herum und lassen sich vom TÜV eine Liste schicken, wie damit umzugehen ist und bestellen mir schliesslich dieses kleine Ding, das der Mann vom TüV grad selber vorbeibringt und mich nur die offiziellen fünf Euro kostet! Offenbar ist das eine speziell dienstbreite Rasse, die Rasse der Automechaniker und Garagisten. Übrigens hat unterwegs im Womo das Display angezeigt: Motor kontrollieren lassen! Ich bin dann lediglich hundert Kilometer weitergetrabt und habe am Abend die hundertsiebzig Pferde für zwei Tage ausgespannt. Danach hat keines mehr gewiehert und ich hab`s den Garagisten in Köpenick auch nicht erzählt. Warum eigentlich nicht? Bestimmt wären bei einem mehrtägigen Aufenthalt in der Werkstatt wieder neue Freundschaften entstanden.

 

Luce ist jetzt dreieinhalbjährig. Ein aufgeweckter Bengel, der mit seinem Papa und seinem Grosi übers Wochenende von Berlin zur mecklenburgischen Seenplatte nach Fürstenberg mitfährt. Er lässt mir schwupps die Womotreppe per Knopfdruck rauf und runter, sobald ich ihn mit "Sir" anspreche. Ja sogar die Frontverdunkelung vermag er per Knopfdruck zu betätigen. Ein toller Reisebegleiter, oft mit dem aktuellen Martinslied auf den Lippen. Leider liegt häufig Nebel über dem wunderschönen Seengebiet. Tage zuvor haben wir vom Müggelturm aus über die Wälder hinweg nach Berlin mehr gesehen als jetzt hier oben. Trotzdem: Vierzehn Tage im November in Deutschland unterwegs und keine Stunde Regen!

Ich kenne bald alle Camping- und Stellplätze rund um Berlin. Etwas hat jeder zu anzubieten. Beim einen hole ich Wasser, beim andern Strom, beim nächsten WLAN fürs Internet, beim nächsten entleere ich das WC und der nächste ist sowieso geschlossen. Gas tanken ab Zapfsäule? Das habe ich noch nirgends hingekriegt. Darüber gibt es die widersprüchlichsten Meldungen. "Kein Problem" schreiben die einen, ohne genau zu sagen wo und "in Deutschland verboten"  behaupten die andern. Kein Problem für mich. Ich bin ja noch Greenhorn und kann die blödesten Fragen stellen und das tue ich unentwegt und überall, ohne Erfolg auf Klärung. Wenn mich Berliner sehen, sagen sie: Das ist doch der Schweizer, der nach dem Gas von der Zapfsäule frägt!

 

Im Sonyzenter hockend lese ich vom Welt-Bild Skandal. Zwölf deutsche Bischöfe nutzniesen diesen Verlag, der 0,017 % mit Erotik zu tun hat. Wieviel das ist? Das kann ich dir in einem Bild sagen. Stell dir vor: Der Papst trägt nicht nur eine weisse Weste, sondern einen ganz langen weissen Talar und unten, ganz ganz unten lugen zwei rote Lackschuhspitzen hervor. Das sind dann etwa die 0,017 Prozent Erotik, vom Papst mit Füssen getreten. Aber er bringt diese roten Spitzen genauso wenig weg wie der Teufel seine roten Hörner.

 

Gestern fuhren wir an den oberprotzigen Diplomatenvillen vorbei. Vor sechs Uhr erwache ich jeweils durch laute Gespräche in polnischer Sprache rund um mein Wohnmobil. Es steht im Hinterhof eines Campings in Köpenick, umgeben von polnischen Kleinbussen und Autos, die von hier weg zur Arbeit, Schwarzarbeit? fahren. Mein Wohnmobil nimmt sich darunter wie eine oberprotzige Diplomatenvilla aus. Im östlichen Teil Deutschlands lähmt immer noch Arbeitslosigkeit und trotzdem gibt es Platz für polnische Schmalverdiener (450 Euro im Monat). Berlin ist ein riesen Ameisenhaufen. P sagt: Stell dir vor, die halbe Schweizer Bevölkerung wohnt hier in einer einzigen Stadt, nämlich 3,5 Millionen Menschen. Mit einer Tageskarte von nur 6.30 Euro kurve ich überall zwischen diesen Millionen herum.

 

Die Anbieter in Berlin müssen bis zum Totensonntag die Weihnachtsbeleuchtung noch ausgeschaltet lassen. Seit vergangenem Montag nun sind die Christbäume und Weihnachtsbuden erleuchtet. Das erinnert mich an die Amtseinsetzung des Pfarrers in der Seelsorgeeinheit St. Gallen Ost, am 1. Adventssonntag 20 11. Ich werde in Berlin dafür eine Kerze zünden. Nur eine!  Am Kurfürstendamm wird jeder Baum mit dreihundert Meter Kabeln und Lampen geschmückt.

 

Noch habe ich in Berlin ein paar Besuche vor, bevor ich anfangs Dezember weiterziehen werde. Wo immer du dieses Mail liesst, ich wünsche dir eine schöne Adventszeit.                                           Lorenz 

 

 

 

Reisebericht Dezember 2011                                               

Um die Plätze meiner Besuche in Schöneiche bei Berlin zu rekognoszieren, fahre ich über Umwege per Moutainbike, Berge gibts hier nicht, von Köpenick los. Blauerhimmelsonnentag. So bike ich den ganzen Tag. Allerdings kaufe ich mir unterwegs warme Socken und stecke meine eiskalten Füsse in ein drittes Paar! Es ist ja gerade drei Grad warm. Ich mache mir einen Spass daraus, ohne Karte zu fahren und die Leute nach dem Weg zu fragen. Sie sind ausnahmslos sehr hilfsbereit. Einer frägt mich auf einem schmalen Trampelpfad, den es nur gibt, weil auch Fussgänger sich an dieser Stelle verirren, warum tust du das auf so gefährlichen Wegen? Bist doch nicht mehr so jung! Nachdem ich ihm mein Alter nenne, will er noch meinen Beruf wissen. Auch den verrate ich ihm. Von diesem Augenblick an, duzt er mich leider nicht mehr. Er zeigt mir aber gern ein Foto von seinem vor zwölf Jahren erbauten Haus, Stein für Stein selber gebaut, ganz abseits, weil er die Atmosphäre am  Prenzlauer Berg nicht mehr gut findet. Zu viele Nationen. Gerade da wohnt mein Bekannter P und fühlt sich sehr wohl. Ist auch jünger und selber Ausländer. Sind sie Schweizer? Mein Sohn lebt auch in der Schweiz, höre ich von drei verschiedenen Wegweisern am heutigen Tag! Deckt sich mit meiner Erfahrung in St. Gallen. Ich habe die Greithstrasse die deutsche Strasse genannt. Sie war bestückt mit deutschen Dauerparkierern vom Kantonsspital.  

In der Gedächtniskirche in Berlin wird eine Generalsuperintendentin als Pfarrerin eingesetzt. Eigentlich eine junge, hübsche Frau, die man nicht mit einem solchen Titel bestrafen sollte. Generalsuperintendentin. Habe ich in der Bibel eine solche Dienstbezeichnung übersehen?

Endlich klappt auch das Gastanken. Die Bruchbude, die vielleicht in diesem Winter noch unter der Schneelast in sich zusammenbrechen wird, eine alte Schnapsbrennerei soll es gewesen sein, jagen wir beim Tanken nicht in die Luft. Auf der ehemaligen Ostseite gibt es noch sehr viele solcher Fabrikgebäude, die ohne Fenster und Dächer schwächelnd ihre Wände balancieren. Wie viel Schnapps oder Arbeit muss hier verloren gegangen sein! Andererseits sind sehr viele Quartiere sehr wohnlich saniert. Was sich optisch für mich am meisten verändert hat, sind die vielen Autos aller westlichen Gattungen.

Es ist an der Zeit, etwas Wäsche zu waschen. Dank Internet finde ich eine Kleinwäscherei an der Luisenstrasse in Köpenick, die mir die Arbeit abnimmt. Wo sollte ich sonst die Bettwäsche trocknen? Fünf Monate lange habe ich ein einziges Mal, an Allerheiligen in Vilters, ein Hemd getragen. Den Hemdenkragenluxus will ich mir sonst nicht leisten. T-Shirts only.

Einen Abstecher fahre ich mit dem Freundespaar H&M von Köpenick nach Brandenburg an der Havel. In dieses flache Seengebiet werde ich bestimmt zurückkehren und beim  "Haus am See" bleiben. Hier hat der Vater von M zur DDR Zeit sommers ein kirchliches Jugendheim geleitet, das sich die Evangelische Kirche von der Dominsel nicht nehmen liess, während er winters in der Stadt eine christliche Buchhandlung führte, deren Fenster von Genossen verschmiert wurden. Das Schmieren hat auch in Berlin nicht aufgehört. Viele Künstler unterschiedlicher Qualität sind am Werk.

David kommt gerade von einer Werbeaufzeichnung von der Zugspitze zurück. Spitze sein Produkt. Er hat die Kulissen für eine Jägermeisterwerbung gebaut. Übrigens, seine Mutti kommt gerade von den Malediven zurück. Zur Zeit von Erich Honecker eine unmögliche Traumdestination.  Wo steckt er bloss? Der sein Leben für seine Genossen, noch  mehr für seine Partei hingegeben hat. Warum ist er nach der Wende 1989 bloss abgehauen? Ach ja, man hat ihm wegen seiner Krankheit nicht den Prozess gemacht, dem Mauerbauer mit der Selbstschussanlage. Manche kommen halt ungeschoren davon. Er verstarb 1994 krebskrank in Chile.

"Unter den Linden" hat für mich an Attraktivität verloren. Die 8 km Leuchtkabel an den unzähligen Linden lassen die Struktur der einzelnen Bäume verwirren. Vielleicht bin ich auf der Suche nach Weihnachtsmärkten auch an die falschen geraten. Bei jenem auf dem Gendarmenmarkt bezahlst du einen Euro Eintritt. Im Nuh könntest du diesen Markt zu einem Feldlazarett umbauen, dermassen steril wirkt er. Ja, Ordnung hat eben seinen Preis.

Den Jeck Point Charlie, den damals einzigen Grenzübergang in Berlin, habe ich 1975 zum ersten Mal durchfahren und dann ca alle drei Jahre. Da und vor dem Brandenburger Tor stehen heute uniformierte Statisten und lassen sich mit Touristen fotografieren. Sie bekommen eine Dienstmütze nach freier Wahl aufgesetzt. Eine von der DDR Grenzpolizei, von einem Volkspolizisten, von einem Stasioffizier oder von einem russischen Soldaten. Nur so zum Spass. Daneben ist zu lesen, wie viele Menschen die an der Mauer erschossen haben und wie viele Familien zerrissen wurden. Das muss man nicht lesen. Man ist ja nur zum Gucken und Spasshaben da. Ich empfinde es als Affront von Ignoranten gegenüber allen Menschen, die unter der Trennung schwer gelitten haben.

Advent im Wohnmobil? Nach einer katholischen Kirche mit Rorate suche ich in der Grossstadt nicht. Ich fühle aber Advent. Es sind die jungen Väter und Mütter, meine nun erwachsenen Bekannten und Freundinnen. Sie gehen dermassen liebevoll und aufmerksam, wohlwollend und geradlinig, geduldig und zielgerichtet mit ihren Schätzen um. Ihr Engagement für ihre Kinder rührt mich wie die gelegentlichen Sprüche der Kleinen, die sich mir zärtlich zuwenden. Florens sagt zur Oma: Lorenz hat viele Karotten! Wenn Oma denkt, er meine wohl Marotten, liegt sie zwar nicht grundsätzlich falsch, aber Florens will ihr erzählen, wie er meine Karotten aus dem Womo den Hasen auf dem Streichelhof gefüttert hat.  

Felix ist immer noch dabei, seinen Bauernhof auf der Seenplatte im Norden auszubauen. Gelingt nur in kleinen Schritten, weil er mit Aufträgen von Künstlern, ihre Ideen mit allen möglichen Materialien umzusetzen, eingedeckt wird. Felix ist ein Alleskönner, ausgebildet zum Malen von Meissener Porzelan. Die Künstler schmücken sich mit "ihren Werken", während da gerechterweise stehen müsste, künstlerische Idee von XY, Ausführung von Felix. Sein Freund Toni Mahoni schreibt in "Gebratene Störche" über Felix  "Kohle hat er nie, aber er ist reich beschenkt mit Freunden". Diese Lebensqualität erhalten sich viele Menschen im ehemaligen Osten. Darum fühle ich mich hier besonders wohl.  

Eine etwas andere Adventmusik. Der Bruder von Felix und David, Moritz, mit Künstlernamen Sirusmo hat den Durchbruch zum bekannten Elektronikmusiker geschafft. Wahrscheinlich mache ich jetzt ein paar Schreibfehler, weil ich eben eine seiner elektronikrockenden CDs aus dem Album  "Mo sa ik" aufgelegt habe und diese Art Geräuschmusik noch überhaupt nicht verstehe. Ich werde mich ehrlich gesagt, dazu zwingen, mich in diese vorerst hirnschmerzenden, atemzerstückelnden Geräusche hinein zu hören. Einfach weil ich wissen will, was dieser Moritz da treibt und was er für sich ausdrücken will. Er hat sich damals auf die Korg-Orgel gestürzt, die ich ihm in den Neunzigerjahren bei seinem Besuch in der Schweiz schenken konnte. Er hat sie unter den Arm geklemmt und zu seiner Band Sirius nach Berlin gebracht. Moritz will eigentlich nirgends auftreten. Er will nur in seiner Gerümpelkammer sitzen und ausprobieren, schaffen, produzieren. Trotz seiner Zurückgezogenheit ist er ein Weltstar auf seinem Gebiet. Wer weiss, vielleicht kann ich diese Musik eines Tages ganz gut leiden. Ich habe schon während meines Theologiestudiums anfangs der Siebzigerjahre den Zugang zu Pop und Rock erst durch die Einführung meines Studienfreundes Guido Schwitter gepackt. Vermutlich eröffnet mir hier Sirusmo eine ganz neue Welt, seine Welt, die er mit tausenden Fans in Europa, Amerika, Kanada, China und Korea teilt. Überall da hat er schon DJ Gigs hingelegt. Sollten deine Enkel Fans dieser etwas ziemlich anderen Musik sein, die du selber nicht leiden kannst, schick sie zu deiner Entlastung in Zukunft auf Reisen mit mir im elektronikrockenden Womo.

M&W führen mich zum total zerbombten und zur DDR Zeit neu überspannten Marien-Dom in Fürstenwalde. Ein sehr gelungenes Werk. Hinten in der Kirche wurde eine Empore eingebaut und der Raum darunter mit einer Glaswand zur Hauptkirche hin abgesperrt. Locker, durchsichtig und doch funktional als Gemeinderaum beheizt. Bei einem Spaziergang am See bei Bad Saarow bin ich begeistert von der Naturbelassenheit der Wälder und Seen all überall. Ein Wander- und Bikerparadies dieser nahe Osten, wo die Westler nicht hinfahren wollen, weil es da bei Regen noch  Pfützen gibt. Möge dieser Zustand für mich noch lange so bleiben.

Der Sohn meiner Nichte Ursula absolviert in Güstrow, im Nordwesten der Mecklenburgischen Seenplatte die Polizeischule. Er befindet sich gerade im Prüfungsstress. Darum pirsche ich mich nur langsam und leise an ihn heran. Das gelingt mir über die einsamen Alleenstrassen fernab der Autobahnen, die mich von See zu See führen.  Erstaunlich hohe Hügel zwischen Oranienburg über  Waren am Müritzsee bis Güstrow, ca vierzig Kilometer vor Rostock. Auf den Ostseeinseln müssen die Kinder heute nicht zur Schule wegen Sturmwinden. An meinem Womo zupfen sie auch. Fabian ist gut drauf. Die Polizeischule gefällt ihm und er will im Norden bleiben und seine Existenz aufbauen. Ernst Barlach war hier zu Hause. Der Schwebende im Dom, manche sagen der Engel, ist eines seiner Werke, das er im Gedenken an den ersten Weltkrieg geschaffen hat. Was die NS aber wegen abwegiger Kunst vernichten liessen. Das jetzige Werk ist aus einer zuvor erstellten Kopie entstanden.

Jupps, jetzt bin ich wieder südlich von Berlin. Bei Tropical Islands. Eine ehemalige Luftschiffbauhalle wurde umfunktioniert und innen mit Ferienhäuschen, Sandstränden am Schwimmbecken und jeder Menge Liegestühlen, Restaurants, einem Regenwald und einer Saunalandschaft vollgestopft. Von aussen sieht man nur die immensen Parkplätze auf den ausrangierten Flugpisten, im Hintergrund ein paar überwucherte Hangars und die graue Hülle der Halle. Einst verbotene Zone.

Ich fliehe weiter nach Süden. Erst gab es Glatteis in Rostock und jetzt sind alle Strassen in Berlin vereist. Bin noch einmal davongekommen. Mal schauen, wie es von Bautzen, genau Panschwitz-Kuckau über Dresden nach Erfurt weitergeht. So langsam scheint mich der Winter einzuholen. Mein Womo trägt aber noch Sommerschuhe, gleich drei  Paar. Das hätte Frau Marcos gefallen, drei Paar auf einmal tragen!

Freundschaftlich aufgenommen zu werden, die vielen bewegenden Jahre der Freundschaft wieder herholen, mit der nächsten Generation spielen und dann wieder sich verabschiedend in den Armen liegen so kurz vor Weihnachten, drückt bei mir auf den  Tränenkanal. Sooou schööön, Das heisst: Ich lebe! Und lebe sehr wohl! Das sorbische Kloster Marienstein, wo sie gerade dabei sind, den Kirchenboden wegen Wassereinbrüchen zu sanieren, und ich von Sr. Paula eine Privatführung erhalte, könnte wahrscheinlich sogar mich als Spiritual gut gebrauchen. Der mehrstimmige Gesang im Rorategottesdienst der Schwestern würde mir auch viele Jahre lang gefallen. Aber meine Niederlassung ist wirklich das Wohnmobil. Seit bald fünf Monaten schlafe ich nirgendwo anders als in einem meiner vier Betten. Und ich schlafe bedenkenlos gut, manchmal sogar bedenklich lange, ach nein, bedenkenlos lange.

In Dresden erlebe ich auf Anhieb eine Orgel Andacht in der neu erstellten, genialen Frauenkirche. Danach bei voller Kirche eine Führung von der Kanzel aus. Ein tolles Geschenk an meinen Advent in dieser grandiosen Rundkirche. 

Äussert peinlich! Ich werde deine Schadenfreude oder dein mitleidvolles Lächeln auf den Stockzähnen verstehen. Für Erfurt suche ich mir einen Stellplatz im Zentrum. Wegen Umleitungen fahre ich durch engste Gassen in der Altstadt. Die Leute können nicht fliehen. Sie kleben vor Angst und Schrecken bereits an den Hauswänden. Mein Gott, falls ich da schadlos rauskomme, will ich mich auf dem Stellplatz sofort duschen! Das verspreche ich dem lieben Gott und der Erfurter Bevölkerung. Bei dieser Strassenenge habe ich einen Wasserschaden. Ich schwitze am ganzen Körper. So etwas Idiotisches passiert mir! Ich finde einen Stellplatz, sieben Kilometer ausserhalb und lasse mich dort nieder. Während eineinhalb Stunden suche ich vergeblich, wo der Nikolaiplatz und der Luther am Karlplatz steht und die Johannisstrasse abgeht, um meine Freunde zu besuchen.  Mein dringender Verdacht: ich habe noch eine uralte Adresse stehen.  Google verweist mich bei dieser Suche immer nach Eisenach. Von Erfurt will Google bei dieser Strassenkombination nichts finden. Nicht einmal im Telefonbuch von Erfurt stehen sie, meine alten Freunde! Wie peinlich! Ich merke erst jetzt, dass ich wirklich nach Eisenach fahren muss. Sie haben nicht die Stadt, sondern lediglich die Strasse gewechselt! Welch ein Irrtum. ..Nun, hast dich vom Lachen erholt? Bereit zum Weiterlesen? Dann halt dich jetzt fest: Mein ganzer Irrlauf hat sich bereits im Juni 2004 schon einmal so abgespielt!! Man müsste mir die Reiseerlaubnis entziehen. Meinen neuesten Kontaktadressen von Haage`s Kakteenzucht und ihrer puppenschöpfenden Tochter kann ich dies Mal in Erfurt nicht nachgehen. Im Radio höre ich, in weiten Teilen Berlins geht wegen Eisglätte gar nichts mehr. Also, ab nach Eisenach, bevor der Sturm kommt. Von Dresden über Erfurt bis Eisenach geniesse ich die herrliche Berglandschaft meist auf dem Kamm fahrend und bei guter Fernsicht und Sonnenschein. So, jetzt bin ich nach der heissen Phase von Erfurt in Eisenach an der Karl-Marx-Strasse geduscht, bin im Schreiben offen und ehrlich zu dir und gehe nun zu meinen Freunden, dem lutherischen Pfarrerehepaar J&D. Sie teilen mein Schicksal. Sind in Rente. 

Flucht vor Joachim! Dieses Tief macht mir etwas Sorgen. Mehrere Fachleute von Eisenach bis Fulda bemühen sich, mir die sechs passenden Winterreifen zu organisieren. Erfolglos. Eine extra Zulieferung würde sehr lange dauern. Vor mir tobt der Joachim, hinter mir liegt bereits Schnee. Bei Chemnitz stehen Lastwagen quer und einer ist gekippt. Nichts geht mehr. Nach Joachim werde es merklich kälter und endlich komme der Schnee. 16. Dezember 11. Ich trete die Flucht nach vorn an. Die Pfarrersleute schicken mir den Segen und die Schutzengel hinterher. Auf allen Autobahnbrücken, und es sind viele, lauert Joachim auf, mein Womo von der Brücke zu schupsten. Ein hinterlistiger Kerl, dieser Joachim. Wie schön, in Nürnberg von lieben Freunden wohlbehalten empfangen zu werden.

In Halden wird mein evangelischer Kollege Andreas Nufer am 4. Adventsonntag 2011 verabschiedet. Zu dieser Zeit nehme ich am Antrittsgottesdienst des Bayerischen Landesbischofs in der Lorenzkirche von Nürnberg teil. Eine feine, lutherische Liturgie. Den Nürnberger Christchindlemarkt erlebe ich als sehr gross und mit den vielen unterschiedlichen Angeboten sehr stimmig. Leider erfahre ich erst als sie wieder in St. Gallen sind, dass sich zwei meiner ehemaligen Mitarbeiterinnen, AS und EG, zur selben Zeit auf diesem Markt herumgetrieben haben!

Eine Stunde bevor es in der Region St. Gallen und Thurgau zu schneien beginnt, liefere ich mein Womo beim Reifenhändler ab. Im letzten Augenblick werden ihm sechs Winterschuhe verpasst! Ich habe alle meine Schutzengel bis zu dieser Stunde strapaziert. Den Nervenkitzel haben diese beschützenden Wesen genauso gut ertragen wie ich selber. Sie haben sich sogar heimlich gefreut: Endlich action! Woher ich das weiss? Einfach so. Woher nimmst du denn den Zweifel daran?

Ich darf, weil mich die Schutzengel kurz vor Weihnachten scharenweise nach St. Gallen geführt haben am Teamabschiedsessen von Andreas Nufer teilnehmen. Danach werde ich ein paar Weihnachtstage in Rotkreuz und Kriens verbringen. Auch Dir: Frohe, gesegnete Weihnachten! Was dann geschehen wird, darüber wieder später. Denn ich schreibe normalerweise nicht in die Zukunft, sondern in der Gegenwart und die ist für mich nach wie vor sooou schöön! 

Über Einsamkeit und all diese Gefühle kann ich dir ebenso wenig schreiben wie über meine "Weltreise", wie sie manchmal genannt wird. Ich begegne dauernd lieben Bekannten und Freundinnen und dies erst mal in der Schweiz und in Deutschland, statt irgendwo in Europa. Fürchte ich mich vor der Einsamkeit und dem Wagemut, weiter weg zu fahren? Klammere ich mich an alte Freundschaften? Warum habe ich mir den Anfang bereits fünf Monate lang Tag für Tag so und nicht anders gestaltet? Ich weiss es nicht. Und es ist absolut gut so, wie es ist. Erinnerst du dich? Ich bin mit dem Gedanken gestartet: Ich will gar nicht wissen, wohin mich die Reise führt, sondern sie erleben. Meine Reise geht weiter und auch meine Berichte im Neuen Jahr 2012, zu dem ich dir Gottes Segen wünsche! Wie sagten wir in Vilters, meinem Heimatdorf?

 "I wüsch dr ä guets nöüs Johr, viil Glügg und Säägä und zlätscht das eiwig Lääbe". 

 

                                                                                                                                                     Lorenz Becker