2012 SEPTEMBER ENDE

Mein Zwischenstopp in der Schweiz hat viele schöne Erlebnisse mit Menschen und Natur gebracht. Aber auch Schweres. Nach acht Wochen verlasse ich Land und Leute wieder. Regnerische, dunkle Wolken bedecken den Himmel. Dasselbe Bild auch über meinem Gemüt. So kurze Zeit in meinem eigenen Land und ich verheddere mich im Spinnennetz des sozialen und gesellschaftlichen Gefüges. Ich kann unmöglich alle an mich herangetragenen Erwartungen erfüllen und mich dabei selbst vergessen. Ich raste nicht aus. Ich starte durch. Die dunklen Wolken ziehen lange über mir und meinem Gemüt her. Bei Champagnole in Frankreich nächtige ich in einem stockdunklen Wald. Ich horche in die Stille hinaus. Eine Herde Wildschweine schnuppert, grunzt, rülpst und knackt. In meinem Bauch! Meine Verdauung ist durcheinander. Draussen im Wald herrscht Schweigen.

 

Mit der räumlichen und zeitlichen Distanz lockert sich das Wolkenbild. Wie unbeschwert lebe ich, wenn ich dem sozialen Spinnennetz entkomme. Ist das der tiefste Grund, warum Menschen Ferien machen? Suchen wir eine Auszeit aus dem sozialen Spinnennetz? Auch!

 

Ich komme in Taizé, im Burgund bei Macon und Cluny an. Hier will ich mich still und innerlich für die einfache und ehrliche Spiritualität der Brüder und Schwestern bedanken. Diese ökumenische Klostergemeinschaft wurde nach dem zweiten Weltkrieg von frère Roger Schutz gegründet und wird nach seiner Ermordung am 16. August 2005 von frère Alois, dem Prior, mit zirka einhundertzwanzig Mönchen weitergeführt. Frère Alois hat mich mit meinen Gruppen oft empfangen. Achtzehn Mal habe ich diesen Ort in vierzig Jahren aufgesucht. Taizé ist mir seit meinem Studium Kraft- und Begegnungsort, Quelle des Lebens. Die sich wiederholenden Gesänge sind für mich so tragend wie die nährende Stille während der Gebete. 

 

Frère Alois wird vom 3.-6. Januar 2013 mit Brüdern und Jugendlichen aus verschiedenen Erdteilen mit dem ökumenischen Patriarchen von Konstantinopel, Bartholomäus I., in Istanbul und mit Christen der Stadt die Erscheinung des Herrn feiern. Für Christen ein Fest der Solidarität. Für Muslime eine Provokation? (Papst Paul VI. und der Patriarch Athenagoras I. von Konstantinopel  haben nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil am 7. Dezember 1965 die gegenseitige Exkommunikation aus dem Jahr 1054 aufgehoben. Die Ost- und Westkirchen sind seither versöhnt.)

 

 Worauf ich im Islam noch keine differenzierte Antwort gefunden habe: 1. Warum gab es in den letzten Jahrzehnten in der muslimischen Welt so viele Diktatoren, die das eigene Volk erpresst, ausgebeutet, gefoltert und mundtot gemacht haben? Waren die religiösen Führer unfähig, gegen diese Gewaltherrschaften anzutreten, oder haben sie diese Diktaturen durch ihre religiöse Ideologie sogar gefördert? 2. Junge Menschen ohne grosse Bindung zur islamischen Religion haben den Sturz der Diktatoren ausgelöst. Werden die religiösen Führer und die religiösen Fanatiker zwanghaft versuchen, die entkommenen Generationen wieder einzufangen? 3. Hat in der islamischen Welt jene Liberalisierung, Säkularisierung begonnen, die die Christenheit längst geschmälert hat? Wird in einzelnen Staaten der Islam zur Privatreligion? Wird es in anderen Staaten erst recht möglich, einen „Gottesstaat“ auszurufen? 4. Sind die heftigen Demonstrationen und Gewaltausbrüche von Islamgruppen bei geistigen Angriffen auf den Propheten Mohamed ein unbewusstes, unbeholfenes Aufbäumen gegen den steten, unaufhaltsamen Religionszerfall? 5. Streiten sich die Islamwissenschaftler an den massgebenden Universitäten über diese Fragen? Versuchen sie das Verhältnis Religion und Staat, Islam und Feindbild geistig neu zu ordnen? Ich bin auf der Suche nach Literatur zu diesen Fragen, die mich seit Langem beschäftigen.

 

Über das sanfte Hügelland des Charollais entferne ich mich erst westwärts von Taizé, dann von Paray-le Monial südlich bei Clermont-Ferrand entlang den Vulkanhügeln über St Flour durch das rund tausend Meter hoch gelegene, gebirgsfreie Massiv Central. Von Sévérac le Chateau über Espalion wird die Strassenführung in der Hochlandschaft in Richtung Aurillac sehr spannend. Es eröffnet sich eine befreiende Weitsicht. Dann steige ich südwestlich unentwegt über Waldpfade ab bis zum Prämonstratenserkloster im hinterletzten Versteck von Conques. Hier wird die Heilige Fides - Sainte Foy - wie in St. Gallen-St.Fiden verehrt. Für den romanischen Baustil ist die Kirche, von aussen kaum sichtbar, innen ungewöhnlich hoch geraten. Gewaltig in diesem engen, bewaldeten Tal. Drei weissgekleidete Kirchenmäuse versuchen das Gotteslob aufrecht zu erhalten. Kein Nachwuchs. Dabei hat die UNESCO diese Klosteranlage schon längst entdeckt.

 

Ich bin etwas entschleunigt. Lese nach kurzen Fahretappen. Geo Epoche Nr 56 hat ein hervorragendes Magazin über „Das osmanische Reich 1300-1922, Geschichte eines islamischen Imperiums“  herausgebracht. Das osmanische Reich wurde in Anatolien, der heutigen Türkei gegründet. Spannende Einblicke. Aber eben, darin gibt es keine direkten Antworten auf meine Fragen zur heutigen Situation des Islam.

 

Der Spiegel hat sich in der Reihe Geschichte Nr 4/2012 an die Päpste herangemacht. „Die Päpste, Absolute Herrscher im Namen Gottes“. Jetzt weiss ich, warum ich mich Zeit meines Berufslebens geweigert habe, die Papstgeschichte anzuschauen. Ich wäre wahrscheinlich in etliche Berufskrisen geraten.  Fürchterlich, wie abgöttisch, saumässig, machtgierig, mörderisch sich einzelne Päpste verhalten haben. Wie sie ihre Ämter verkauft und Verwandte bereichert haben. Wie sie Machthabern willfährig waren, selber haben morden und brennen lassen. Man müsste nach all diesen Einsichten den römischen Laden schliessen, dem Erdboden gleichmachen. Christus hat in diesen zweitausend Jahren Papstbeschichte mehr gelitten als am Kreuz. Diese Verräter haben Sein Testament verhöhnt. Wie kann die römische Kirche nur behaupten, das Petrusamt und die Weihegewalt seien lückenlos bis in die heutige Zeit tradiert worden? Ich bin froh um die Lücken. So  sind doch auch die alten Sauereien der Päpste nicht lückenlos per Handauflegung des Bischofs auf meinem Kopf gelandet. Die Auswahl der Artikel im Spiegel ist keineswegs eine blindwütende Vergeltung. Es werden auch Verdienste von Päpsten gewürdigt. Ja, das gibt es auch! 

 

Nach Conques erfülle ich mir den Wunsch nach Sylvanès zu fahren. Herrliche Wald- und Wiesenwege über Höhen und Täler. Die von aussen breitplatschig wirkende, ehemalige Zisterzienserkirche überrascht mit einem hohen einschiffigen Innenraum. Der Chorraum hebt sich kaum ab. Rückwärts gesehen nimmt die neue Riesenorgel vom Boden bis zur Decke die Fläche der gesamten Rückwand ein. Den Raum vereinnahmend. Das ganze Innere der Kirche wirkt wie eine Kaufhalle. Kein Ort des Gebetes und der Stille, wohl ein Konzertsaal für internationale Kunst jeweils von Juni bis August.

 

Der kleine Weiler Basse liegt hinter dem Lac du Salagou über Octon im Languedoc versteckt. Er besteht heute praktisch aus dem Hotel Palombe, was mit Steintaube übersetzt wird, und aus den dem Hotel verbundenen Wohnhäusern. Hier treffe ich mich mit achtundzwanzig Leuten aus St. Gallen. Kein Zufall. Hansjörg Frick hat diese Pfarreireise ausgeschrieben und bespickt si e mit theologischen Impulsen und Traktaten. Vreny und Bruno Dörig führen uns mit spirituellen Impulsen eine Woche lang an Kraftorte, über die rote Erde und dem Lac du Salagou entlang. Das ehemalige Eremitenkloster St. Michel deGrandmont wurde im 11. Jahrhundert gebaut. Auf dem Gelände gibt es Dolmen und behauene Kultfelsen aus keltischer Zeit. Bei einer Wanderung feiern wir in der Kapelle Notre Dame de Roubignac eine beeindruckend einfache Eucharistiefeier mit einem blutenden Holzkelch und einem Baguette auf einer Steinplatte. Der Holzkelch lässt tropfweise etwas Wein nach aussen sickern. Was für ein Symbolbild! Das mehrstimmig gesungene Vater unser nach Rimski Korsakov erfüllt mich immer wieder mit einem andächtigen Schaudern. Sooou schön. Mit dem Car und einem Fussmarsch schaffen wir es bis ans Meer in der Camarque und essen auf der Insel Maguelone am gedeckten Tisch am Meer. Das Carehepaar Ulmann hat ihn uns gedeckt. Leckereien kaufen wir auf dem Markt für Einheimische in Clérmont-l`Hérault. Durch St.Guilhelm-le-désert führt der südlichste Jakobs-Pilgerweg von Frankreich. Ein beguckenswertes Dorf mit einer Schweigekathedrale. Im Cirque de Mourèze bin ich bass erstaunt über die phantastische Felslandschaft. Und über allem liegt in Ruhe und Abgeschiedenheit das Eremitenkloster Notre Dame-des-belles-graces. Zum Abschluss dieser gemeinsamen Woche wandern wir am Lac du Salagou auf der roten Erde mitten im saftigen Grün der Eichelbäume Pflanzen und Kakteen. Im Wasser bauen wir einen Steinaltar und feiern am Gestade die Eucharistie. Da mir während dieser Woche Einige ihre Ängste und Hoffnungen, andere ihre Freuden und Sehnsüchte  mitteilen, kullern mir Tränen der Ergriffenheit über all diese menschliche, göttliche Nähe auf die rote Erde.

 

In dieser Woche im Languedoc pflücken wir Feigen, entdecken Granatapfel-, Kastanien- und Mandelbäume. Sepp, der Botaniker, benennt uns die seltsamsten Gräser, Pflanzen, Büsche und Bäume. Im Frühling hat er hier mehr wie zweihundert Pflanzen bestimmt. Und „Dem Gehenden schiebt sich der Weg unter die Füsse“, so beschreibt Martin Walser das Wandern. Mit diesem Gedanken im Kopf komme ich tatsächlich vom Fleck. Meine Knie rebellieren dennoch jeden Tag auf schmerzhafte Weise.

 

Die St. Galler fahren am 29. September 12 wieder nach Hause. Ich dagegen rolle zum Bahnhof von Montpellier. Hier steigt ein Freundespaar aus der Schweiz kommend in mein Womo. Sie werden in nächster Zeit meine Gäste sein.

 

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