2012 JUNI - JULI

Pannen gehören zu meinen schönsten Erlebnissen. Ich kann nur selten so herzhaft lachen. Den Mai-Bericht habe ich Dir am 31. zu frühzeitig abgeschickt. Da sitze ich nun südlich München in Brunnthal bei SFC für ein kurzes, schmerzloses Update am Efoy-Gerät. Nein, sagt der Techniker, dieser Gerätetyp macht uns dauernd Schwierigkeiten. Wir müssen das Gerät ausbauen und reparieren. Dazu brauchen wir einen Tag. Schön, dass Sie mit ihrem Womo zu uns gekommen sind. Das Ausbauen und Hin- und Hersenden des Gerätes Schweiz-Deutschland-Schweiz wäre viel schwieriger und zeitraubender gewesen. Hörst Du mich schallend lachen? Passt doch prima in meine Pannen-Sammlung. Die Reparatur war gründlich. Das Gerät hat sich nie dagewesene Extras erlaubt. Die Daten geben den Technikern nachhaltig grosse Rätsel auf. Mir nicht. Übrigens bei Carthago haben mir zwei Reparaturkunden während zwei Stunden Stories von Carthagopannen erzählt. Mein Womo ist demnach kein Montagsmodell. Alle sind so! Du musst aber wissen, die beiden Kunden haben von einer sehr bekannten Grossfirma bewusst zu Carthago gewechselt. Sie hätten damit das geringere Übel gewählt, sagen sie nach zehnjähriger Erfahrung.

 

Ohne Lastwagen im Verkehr fährt es sich am Sonntag gut. Die Münchner schlafen noch, als ich aufbreche und von Salzburg bis Villach durch Österreich A schnurre und durch ganz Slowenien SLO noch dazu. Nach sechshundert Kilometern lege ich Anker am grossen Thermencamping in Brezice SLO, dicht an der Grenze zu Kroatien HR/Zagreb. Zwei Tage später fahre ich auf der Autobahn durch die grünsaftigen Weiten von Kroatien und Serbien SRB. Die riesigen Felder werden erst am fernen Horizont von Wäldern oder Hügeln begrenzt.  In Kroatien gibt es auf dieser Strecke nur einen geringen Verkehr, fast ohne Lastwagen. Die Mäusebussarde nicken mir auf den Zäunen hockend aus Langeweile zu. Von der modernen Autobahn könnte man jeweils eine Spur den Rollerbladern freigeben. Die andere Spur genügt für die Autos und wenigen LKWs. Ab Nis SRB, nach sechshundertfünfzig Kilometern, gibt es für weitere hundert Kilometer einen abrupten Szenenwechsel. Schmale Schluchten in Kalkfelsen führen das Wasser und die enge Strasse wildschlängelnd durch das Hügelland bis sich das Ganze bei Bela Palanka wieder zu einem Tal weitet. In diesem serbischen Zipfel zu Bulgarien hin sind viele Menschen Selbstversorger und arbeiten im Ackerland. Bilder aus meiner Kindheit steigen aus der Schatzkammer auf. Nach Pirot SRB, kurz vor der Grenze zu Bulgarien BG, bekomme ich Gastrecht auf einem Campingplatz. Wie alle bisherigen Grenzformalitäten geht es auch in Dimitrovgrad von Serbien schnell nach Bulgarien. Sofia BG wird grossräumig umfahren. Da fängt das Hüpfen an und erhält Verlängerung in Plovdov. Schlaglöcher in den Strassen so gross wie Hotelkochtöpfe. Zum Flicken aufgerissene Gräben, genügend Platz darin für Sarkophage. Alles ungesichert. Grosse Polizeipräsenz. Keiner hat eine Schaufel in der Hand. Ihre Aufgabe dürfte es sein, jene Driver zu bestrafen, die nicht elegant genug um die Löcher und Gräben herumhüpfen, sondern sich selber willentlich oder unaufmerksam in die Pfanne hauen. Ich weiss nicht, wer zur Zeit mehr leidet, das Womo oder ich? 

 

Beim sechsten Grenzübergang, nun von Bulgarien zur Türkei TR, wird sogar die Identifikation meines Womos in meinen Pass eingetragen. Jetzt fühlt sich mein Carthago fast wie ein Familienmitglied. Auf dem Camping bei Edirne TR prüfe ich mein Skelett und das Womo sorgfältig. Keines von beiden hat bei allen Erschütterungen und Anstrengungen der einwöchigen Fahrt von zweitausendzweihundert Kilometern seit Vilters bis in die Türkei was abgekriegt. Ich bin glücklich und dankbar. Mein vorläufiges Ziel, die Türkei, haben wir, das Womo und ich, ohne Pannen und Schwierigkeiten am Mittwoch, 6. Juni 2012 erreicht. Diese Pannenfreiheit will ich auch einmal festhalten. Jetzt werde ich mir dieses historisch unglaublich vielschichtig gefüllte Land, die Türkei, erschliessen. Sooou schööön!

 

Eine Stunde nach Ankunft in der Türkei vernehme ich, meine Schwester Helen liege erneut im Spital. Augenblicklich legt sich ein trübender Schleier über meine Seele. Mal will sie jauchzen, mal muss sie weinen. Meine Entdeckerfreude. Mal hat sie freien Lauf, mal wird sie eingebunden. Helen  wird vom  Spital Walenstadt nach St. Gallen verlegt. Sie gebe noch nicht auf, meint sie. Ich solle ruhig die Türkei erkunden. Später werde sie mitfahren.

 

Da beginne ich also in Edirne mit der Moschee, die der Sultan Selim II. in Auftrag gegeben hat. Der Architekt Sinan, der noch mit neunzig Jahren als Architekt tätig war, dieses Alter erwähne ich mit Respekt für alle, die nach fünfundsechzig noch am Arbeiten sind, hat sie von 1567-1574 gebaut. Es soll die schönste Moschee der Türkei sein. Eine atemberaubende Innenarchitektur auch für mich. Im Park sitzend höre ich zum ersten Mal deutlich den Gebetsruf des Muezzins. Der kommt bei Allah an, ganz oben und auch bei mir unten.

 

Dinner auf dem Camp zu dritt. Ein Pfarrer in einer Luxuskarosse und zwei Radler. Fulvio ist Schweizer. Von daher eben in der Türkei angekommen. Er nimmt sich ein halbes Jahr Zeit für den weiteren Weg auf der Seidenstrasse nach Peking! Oskar, von Pamplona, ist in Schottland gestartet und in einer mehr oder weniger geraden Linie durchgefahren und eben auch in der Türkei angekommen. Sein Ziel liegt in Ankara. Holst Du jetzt auch dein Bike aus dem Keller oder kaufst Dir wenigstens ein Womo?

 

Ich beobachte zwei Ameisenstrassen vor meiner Womotreppe im Wald. Sie schleppen emsig Bettzeug herbei. Die zweite Strasse benutzen besonders winzig kleine Ameisen. Ebenso beschäftigt. Die Strassen kreuzen sich. Die Kleinen benutzen einen einzigen dürren Grashalm als Brücke zwei Zentimeter über dem fetten highway, um ihren Minihighway ungestört fortzusetzen. Verkehrstechnisch friedlich gelöst. Auf einem fast autofreien Highway wirft ein Transporter exakt vor meinem Womo seine Last ab. Sie purzelt vor mir her und reisst den Asphalt auf. Ich kann rechtzeitig bremsen. Als hätte er es nicht auf mich abgesehen, helfe ich dem Fahrer unverzüglich, das sperrig kratzige Agronomiegerät wieder auf die Ladebrücke zu wuchten. Zweimal greift er zum Dank nach meiner Hand. Dann braust er davon. Verkehrstechnisch friedlich gelöst.  

 

Zwischen zwei Meerengen liegt das Marmarameer. Ich setze bei den Dardanellen auf den asiatischen Teil der Türkei über. Den Rückweg werde ich wohl über den Bosporus nehmen. Troia zeigt an einem einzigen Stadthügel neun Schichten der Geschichte in Kleinasien von 3500 v. Chr. bis 500 n. Chr, wie Städte aufgebaut, zerstört und zum Teil von anderen Völkern wieder aufgebaut und wieder verlassen werden. Dazu kommen noch 1500 bewegte Jahre bis heute. Ich muss schmunzeln, wenn in meinem deutschsprachigen Führer aus meiner Studienstadt Tübigen den Muslimen entgegenkommend von „vor und nach unserer Zeitrechnung“ die Rede ist, statt exakt v.Chr und n.Chr. zu schreiben. Bei so viel geschichtlichem Auf und Ab ist die Bezeichnung „unsere Zeitrechnung“ sehr ungenau, so blöd wie Neufundland. Wer sind wir denn? Von „uns“ wird auch erst einmal – von Archäologen unter der Erde hervorgekratzt und abgepinselt - die Rede sein. Dann steht auf dem Grabstein, „gestorben im Jahre 2012 nach unserer Zeitrechnung“!

 

Das muss ich jetzt einmal loswerden. Türken, ich sage nicht die Türken, aber Türken um mich herum görbsen, das ist so ein eruptiv grollender Laut aus der Tiefe des Innern bis über den Adamsapfel hochsteigend, wann und wo sie wollen. Sie hören nicht einmal damit auf, wenn sie fertig sind. Sie zwingen sich zu einem abscheulichen Nachgrollen.

 

Fünfmal am Tag ertönt das Gebet des Muezzin über Lautsprecher. Ein heiliger Schauer überzieht mich, weil ich dieses Gebet sehr bewusst wahrnehme und innehalte. So ein religiöses Zeichen muss doch die Leute zu einem ethischen Verhalten anregen, meine ich. Was mir aber die Campingbesitzerin über Abscheulichkeiten in Heimen erzählt, was über das türkische Fernsehen ausgestrahlt wird, schreit dagegen. Überhören Muslime den Muezzin etwa so unbewusst und unberührt wie Christen die Kirchenglocken? Dann hülfe vielleicht, alle sieben Jahre die Kirchenglocken an muslimische Minarette und die Lautsprecher an christliche Kirchtürme zu hängen.

 

Ich lade dich jetzt zu einem feinen Fischessen am ägäischen Meer ein. In dieser schlichten Einfachheit, wie die Leute hier leben, ist so ein gedeckter Tisch mit Tischtuch eine wahre Festfreude. Tagsüber leuchtet das klare Meerwasser in Tiefblau und Grün. Am Abend bahnt sich die Sonne in Silber ihren Weg zu mir, bis sie darin in Gelb und Rot versinkt. Lass es Dir schmecken. Sooou schön!

 

Bergama. Pergamon. Berlin. Meine lieben Berliner Freunde, eilt jetzt ins Pergamon-Museum um für mich den von Archäologen geklauten Teil des Pergamon-Altar-Frieses zu sehen. Wird je eine Kultur so viel Interesse haben an unseren Stahl- und Glasresten und Brücken aus armiertem Beton, wie ich Interesse habe angesichts der behauenen, wohlgesetzten Steine vor bis zu fünftausend Jahren? Ich finde das Erlebnis ruinensteinumwerfendfantastisch. Ich schaue jetzt ein paar Überreste von Stadttoren, Plätzen, Befestigungsmauern, Tempeln und Theatern, die Paulus vor zweitausend Jahren im Vorübergehen geschaut und bestaune Aquädukte, durch die er seinen Durst gestillt hat.

 

Nun bin ich auch türkischer Grossvater, Dede! Senep heisst sie. Ein neunmonatiges Mädchen aus Istanbul will mich am ägäischen Meer unentwegt streicheln und lächelt süss. Mama deutet das auf Freundschaft. Die Eltern erklären mir im Gespräch, in welcher Gegend es für mich gefährlich sein dürfte zu reisen. Es gäbe eben viele unterschiedliche Volksstämme in der Türkei. Jedenfalls solle ich dort nachts nicht unterwegs sein. Das werde ich mir merken. Es ist im Gebiet Südostanatolien. Nahe zu Syrien. Das selbe bestätigt mit später der Autobahnbaubos der bayburt-group, Kiyasi Sentürk und sein Driver, während sie beim Autowaschen mein Womo besichtigen. Bayburt ist die Geburtsstadt vom Boss, der früher fünf Jahre lang als Maurer im Grossraum Essen gearbeitet und dann zu Hause dieses Imperium aufgebaut hat. Ich sei in Bayburt und Ankara sein Gast. Ich solle anklopfen. Die selbe Herzlichkeit erfahre ich bei Mehmet und seinen Brüdern und Cousins als ich mir Zeit nehme, bei ihnen zu sitzen. Dauernd schleppen sie zwei Tage lang türkische Extras herbei und unterhalten sich mit mir, ohne auch nur das Geringste zu verstehen. Klarheit schaffen erst bestätigende Zeichen von Vermutungen.

 

Ackerbauern salutieren freundlich von ihren Traktoren, während ich sie mit meinem Womo auf den engen Staubstrassen von der Piste dränge. Wo immer wird versucht, Kontakt zu finden. Einfach so aus Freundschaft und Wohlwollen, ohne ein bedrängendes Nachspiel. Ich bin zwar allein unterwegs, aber fühle mich nie allein. Mit den Ameisen schliesse ich Freundschaft. Ich füttere sie mit Erdbeerkonfitüre. Dafür darf ich meinen Campingstuhl über ihre Heerestrasse hinweg stellen. Niemand klettert zu mir hoch. Wir respektieren uns gegenseitig wie ich die Türken und die Türken mich. Ich lade die Einheimischen sehr schnell dazu ein, ins Womo hochzuklettern und erkläre ihnen die Technik. Über meine Offenheit sind sie äusserst überrascht und dankbar. Sooou schööön! Was aber alle Türken auch wissen: Ich bin katholischer Priester. Die erste Frage lautet immer: „Wo ist deine Frau, wo sind deine Kinder?“ Ich versuche dieses Manko, wie sie es empfinden, mit meinem Beruf zu erklären. Hoffnungslose Aussicht! Suche dir hier eine Frau, sagen einige!

 

Warum steht mein Wecker im Kühlschrank? Nein, nicht wegen geistiger Verwirrung. Wegen der fünfunddreissig Grad Hitze im Freien orakelt er unentwegt. Im Kühlschrank erholt er sich. Es ist meine Idee, aber ich finde keine Erklärung für den Erfolg.

 

Ephesus. Eine unglaublich klar gegliederte, prunkvolle Stadt. Was ich da noch alles zu sehen bekomme! 431 n.Chr. hat hier ein Konzil stattgefunden. Erst einmal kam es zum Bruch zwischen der kaiserlichen Ost-Kirche von Konstantinopel mit Nestorius und der römisch-westlichen Schule mit Kyrill von Alexandria. Paulus hat hier zuvor drei Jahre lang gearbeitet und auch im Gefängnis gesessen. Johannes, der Lieblingsjünger von Jesus, sei nach dessen Ermordung mit der Mutter Jesu, Maria, nach Ephesus gezogen. Maria habe hier gelebt und sei hier gestorben. Diese Geschichte ist bisher an mir vorbeigegangen. Warum nicht mal den Ort anschauen, wenn ich schon hier bin. Ahnungslos quäle ich mein Womo von Ephesus aus nasensteil bergauf, bergauf. Meryemana (Haus der Maria) heisst der einsame Ort im Gebirge. Katharina Emerich, eine Nonne in Deutschland, hat diesen Ort fernab in Visionen beschrieben. Die Grundmauern aus dem 1. Jh n. Chr. wurden hier im dichten Wald gefunden. Papst Paul VI., Johannes Paul II. und Benedikt XVI. sind hier gewesen. Alle ohne mein Wissen! So, nachdem ich Dir meine Ignoranz eingestanden habe, sage ich Dir das Erfreulichste: an diesem schlichten Ort habe ich still betroffen von so vielen Schicksalen heimlich und erfüllt beten können.

 

Milet, im 7.Jh v. Chr. die blühende Hafenstadt Kleinasiens, wurde zu nahe ans Wasser gebaut. Der mäandernde Fluss Menderes Nehri hat die Stadt in der Ebene im Schlamm versinken lassen. Zwanzig Kilometer weiter südlich lausche ich dem Orakel von Didyma. „Wenn du diese Grenze überschreitest, wirst du ein grosses Reich zerstören!“ sagt das Orakel zum Kaiser. Aber welches Reich ist gemeint? Sein eigenes oder das des Feindes? Das verrät das Orakel nicht und behält immer Recht! 

 

So, nun weisst Du einiges über meine letzten Tage. Ich spüre in der Türkei bisher an der Westküste den antiken Städten nach. Erfrische mich ab und zu mal im ägäischen Meer, kontakte die überaus menschenfreundlichen Menschen in der Türkei. Die Lufttemperatur ist angenehm zwischen fünfunddreissig und vierzig Grad. Viel Wind macht’s erträglich. Und da ich schon einmal über der Orakelspalte im Tempel von Didyma, wo Zeus Zwillingsgöttersöhne hat zeugen lassen, sitze, frage ich das Orakel: „Wie und wo geht mein Weg weiter?“ Die Antwort: „Wenn dich dein Womo hier wegträgt, wirst du nicht hier bleiben.“ Ich erahne: „Das Orakel behält immer Recht.“ Übrigens, seitdem wir ernsthaft miteinander unterwegs sind, sind wir ein Herz und eine Seele, mein Womo und ich. Wir fühlen uns beide ganz gesund und munter und voller Tatendrang. Keine Strasse ist uns zu eng, kein Weg zu steil, kein Ziel zu weit weg!

 

Schon vier Seiten! Ich schliesse diesen Bericht darum nach einem halben Monat, am 17. Juni 2012 in Didyma TR.                                                                                    

 

Mein Gefühl sagt mir: be carefull. Vorsicht! Der Campground ist zwar leer, ausser eben diesen jungen Familien mit Zelten. Sie scheinen mir etwas aufdringlich. Wer weiss, wie die Kinder bald auf meinem Dede-Buckel herumklettern werden. Ich gehe auf Distanz. Die Kinder nicht. Sie werden zwar dann und wann von den Müttern zurückgeschrien. Dieses Schreien verhallt wieder. Die Kinder wieder frei. Jetzt ist draussen schwarze Nacht. Ich schaue den Film That is it über Michael Jackson. Bedauere, dass ich dieses Genie früher verkannt habe. Plötzlich knallt es draussen. Es ist stockdunkel auf dem Camp. Meine, von mir etwas abgedrängten Nachbarn, suchen nach einer Weile mit den handys etwas Licht ins Dunkel zu bringen. Meine Chance, ihnen ein Zeichen meiner in mir schlummernden Verbundenheit zu schenken. Aber auch eine Chance, das Wunder meiner Taschenlampe vorzuführen. Eine led lenser P14. Ein Griff! Eingeübt gegen Überfälle. Sekunden später wird es vierzig Meter von mir entfernt taghell um ihre Grillstelle. Je ein Augenpaar, und es sind viele, leuchten mir geblendet entgegen. Nachdem sich die Nachbarn gefasst haben, schaffen sie eine neue Lampe herbei. Ok. Meine Mission ist erfüllt. Unverzüglich kommt der Anführer der Kinderschar mit einem Teller voll grilliertem Geflügel als Dank für mein Blenden zu mir. Ich wasche den Teller und fülle ihn mit einer Ladung Magnum. Die Kinderaugen leuchten. Oooh ist auch ihr Vokal für süsses Erstaunen! Soviel verstehe ich jetzt von der türkischen Sprache. Das Geflügel kommt mir wie gewünscht, Oooh! Ich habe vor lauter Micheal Jackson das Nachtessen vergessen.  Zeit an Dich und meine lieben Freunde zu denken. Ein Glas kühler Stegler von Berneck, von lieben Freunden mit auf die Reise geschickt und von keinem Zoll entwendet, gibt mir den Rest völligen Glückgefühls. Ich werde weiterhin vorsichtig sein, aber auch offen, meine Vorsicht der Wirklichkeit anzupassen. Prost! Und mit Michaels Worten: God bless you!

 

Bei Dalyan mache ich einen Tagesausflug per Boot bei dröhnender Musik. Leider! Caretta caretta heissen die Wasserschildkröten. Am Sandstrand legen sie ihre Eier ab. Nachts, wenn die Turtles aktiv sind, ist der Strand gesperrt. Eiersuchen am Tag ist verboten. So leben zwei Völker an kilometerlangen Sandstränden. Bei Patara wurde im 4. Jh  der kleine Nikolaus geboren. Später war er hundert Kilometer östlich der Bischof St. Nikolaus von Myra. Hier in Patara, wo auch Schildkröten schlüpfen, erheben sich hohe Sanddünen. Ein überraschender Anblick in der Türkei.

 

Die Ebene von KINIK (sprich: Kenek) glänzt von gewölbten Plastiktunneldächern. Triebhäuser für Tomaten. Eine Ernte müsste reichen, alle Ketchupflaschen Europas abzufüllen. Es ist weitherum die einzige Ebene. Ansonsten geht`s entlang der Südküste recht steil bewaldete Hügel rauf und runter. Diese geologische Gestaltung überrascht mich. An den Steilküsten könnte ich unversehens mitsamt meinem Womo baden gehen. Ausgesetzte Kurvenstrassen. Badengehen tue ich gern alleine. Selbst ich als wasserscheuer Gebirgsmensch schwimme gern bei täglichen Aussentemperaturen von über dreissig Grad im glasklaren, mal grünen, mal blauen Meer. Da sind wir Türken unter uns. Die Touristensaison hat noch nicht begonnen. Ich bin einer von ihnen. Nur das Womo sticht wegen seiner Grösse und Eleganz total ab von allem, was die Einheimischen zu Gesicht bekommen. Ich gebe ihnen oft Gelegenheit, das Womo innen zu begucken. Für dieses Geld, beteuern sie mir, könnte ich in der Türkei eine grosse Villa bauen. Mir aber ist wohler, wenn diese Villa mich gemächlich durch die Gegenden fährt und auch bei Schlaglöchern nicht auseinanderfällt. So beschenkt sie mich mit immer neuem Ausblick. Sooou schööön! Bisher erlebe ich keinen inneren Streit darüber, wann ich fahre und wann ich stehe. Mir ist voll bewusst, ich habe „unendlich viel Zeit“ und kann verweilen. Bei all meinen bisherigen Reisen und Weltreisen ist mir dieses Gefühl neu und kostbar, ich habe sehr viel Zeit.

 

Auf der Gebirgsstrasse von Kas nach Antalya erlebe ich zehn Sekunden tiefster spontaner Reflexion. Soviel Zeit bleibt mir zu entscheiden, ob ich die drei Backpackers aufspringen lasse oder nicht. Es sind die ersten Autostopper, denen ich in der Türkei begegne. Stopp! Sie sind genauso überrascht wie ich. Mein Womo ist das siebzehnte Gefährt, das sie von Eskisehir bis hierher mitnimmt. Sie sind schon vier Tage unterwegs. Ein paar Kilometer weiter gibt’s eine Rauchpause und eine Besichtigung meines Womos. Wir sprechen über unsere Pläne. Sie wollen nach Olympos ans Meer. Zwei von ihnen können nicht schwimmen. Eine Freundin soll am Abend noch dazu stossen. Sie ist per Bus unterwegs. In Myra, beim Samichlaus, zeigen auch sie Interesse an Ausgrabungen. Das gefällt mir. Weiterhin unterwegs über Gebirgsstrassen und bewaldete Hügel tut sich in ihren Herzen einiges. Sie wollen nicht mehr ans Meer. Sie wollen bei mir bleiben. In Antalya holen wir die Freundin des Englischlehrers ab und tun uns für die nächsten vier Tage zusammen. Zu fünft! Schliesslich habe ich noch mein Zelt dabei. Wir finden alle Platz.  Grossartig. Jetzt habe ich echte junge Türken dabei. Der Englischlehrer muss für die Übersetzungen herhalten. Erst nachts bei der Gelegenheit, unter vier Augen allein mit mir zu sprechen, packen alle ihre Englischkenntnisse aus. Es sind dann auch intime Themen, die die Jungs mit mir besprechen. Sex und Glaubensfragen. Es gibt Tabus in der türkischen Gesellschaft. Sie dürften sich in ihrer Gesellschaft und Verwandtschaft nicht laut dazu bekennen, an nichts zu glauben. Humanität sei ihnen wichtig. Das stellen sie eines Nachts unter Beweis. Ein Campingwirt benimmt sich aufdringlich, macht anzügliche Bemerkungen. Sie stellen ihn im Gespräch. Er will sich nicht entschuldigen. Auf Bitten der Jungs, verlassen wir fluchtartig das Gelände, um unseren gemeinsamen Abend zu retten. Es sei ihnen peinlich, meinen sie, was sie mir alles zumuten würden. Bei der fälligen Umarmung auf einem riesigen Kiesparkplatz, der in dieser Nacht nur uns gehört, am Beysehir Gölü, sage ich ihnen: „Ich bin stolz auf euch. Erstens habt ihr nicht lange gefackelt und dem Lüstling im Gespräch eine Lehre erteilt und zweitens habt ihr unverzüglich die Konsequenzen gezogen und den Ort verlassen, ohne zu wissen, wohin die Reise geht.“ Mein Verständnis und meine Achtung bläst ihr Gefühl von Peinlichkeit weg. Darauf folgt ein langes, verbindendes Schweigen. 

 

Kulturell lassen sich die Jungen gern führen. Sie wollten ja nur baden gehen. Sie sind unvorbereitet, die antiken Schätze ihres Landes zu entdecken. Bei Antalya besuchen wir Perge, wo auch Paulus sich auf seiner Missionsreise niedergelassen hatte und wo viele Christen heimisch waren. Wir kühlen uns danach bei den Wasserfällen von Kursunlu, stolpern über die gefallenen Säulen und Friese in Side bei Manavgat und besuchen die im Innern mit Holz ausgebaute Moschee in Beysehir und schwitzen im Hamam.

 

Die türkische Polizei ist aus demselben Holz geschnitzt wie die Bevölkerung. Einfach umwerfend freundlich und hilfsbereit. Unsere Strasse von Beysehir nach Konya ist wegen einer fünf Kilometer langen Baustelle total gesperrt. Wo noch zu fahren wäre, ist der Asphalt in einer Schlangenlinie aufgebrochen, damit niemand mehr durchfährt. Wir zweigen auf die Umfahrungsstrasse ab, die fünfzehn Kilometer länger ist. Dazu soll sie sehr kurvig eng sein. Wir begegnen einer Polizeistreife mit vier Mann im Innern des Wagens. Crazy, diese Polizei. Wir dürften schon über die Baustelle fahren. Nur sei der Weg eben schwierig und aufgebrochen. Aber dieser Weg hier sei auch schwierig. Rechtsumkehrt! Zurück zum totalen Fahrverbot und die fünf Kilometer Schlangenlinie mit Achselzucken der Polizei durch! Selbstverantwortung übernehmen, heisst das totale Fahrverbot für Touristen in der Türkei.

 

In Konya besuchen wir das Museum des Mevlana Klosters, wo einst die Derwische in Klosterzellen lebten und gemeinsam sich in Trance tanzten. Nach vier gemeinsamen Tagen von Kas bis Konya , sind meine jungen Leute auch immer noch in Trance über ihr Glück, diese Tage mit mir und meinem Womo verbracht zu haben. In Trance über all mein Vertrauen, das ich ihnen geschenkt habe. Über das, was sie an Lebenserfahrung und Offenheit aus mir herausgekitzelt haben. Beim Abschied liegen wir uns schweren Herzens in den Armen. Es bleibt für sie ein Tagtraum! Sie hätten jetzt nur noch ein Problem, sagen sie. Kein Türke werde ihnen glauben, was sie in diesen Tagen erlebt hätten. Sie brauchen Fotos als Beweise.

 

Kaum sind die Jungen weg, sitzt der nächste Englischlehrer aus einer Privatschule in Konya in meinem Womo, befragt mich während drei Stunden und schlägt dann ein Treffen mit dem regionalen Fernsehen vor. Meine Lebenseinstellung, die Art zu Reisen und meine Erfahrungen würden alle Türken interessieren. Das alles obendrein noch von einem katholischen Priester zu hören in Konya, der Hochburg des anatolischen Islams, sei umwerfend! Bin ich denn Paulus auf Missionsreise?

 

Weiter geht die Fahrt durch hundertfünfzig Kilometer Kornfelder. Einfach umwerfend, diese immensen Ebenen voll an reifem Korn. Soooou schön! Von Konya bis Aksaray, die Kornkammer der Türkei. Irgendwo, in früher unbewohnter Gegend, steht an der Haupthandelsstrasse der Seldschuken die Karawanserei Sultanhani aus dem Jahr 1229. Also noch etwas bevor die Eidgenossen ihre Schwurfinger zum Himmel gestreckt haben, waren hier Kaufleute mit ihrer Ware unterwegs und suchten Schutz. Das suche ich jetzt auch und finde. A spricht sehr gut deutsch. Er empfängt mich mit Chay und weil das Gespräch etwas länger dauert grad auch noch mit einem Kaffee. Er war deutscher Boxmeister 2008 und danach auch türkischer Meister. Seine Freundin und sein Elfjähriger leben in Deutschland. Er muss die Atmosphäre seiner Heimat wieder atmen. Er habe in seinen jungen Jahren in Deutschland nur allen vorgemacht, Deutscher zu sein. Im Innersten sei er Türke.

 

Die Türken ticken anders. Bestätigt auch der deutsche Chefmonteur, mit dem mich A bekannt macht. Wir treffen uns zum Dinner. Eine deutsche Firma hat ihn bei Mercedes-Benz-Türk für ein halbes Jahr hier abgesetzt. Er baut eine Hightechautolakieranlage. In Aksaray liegt seit 1972 das Hauptwerk für Mercedes-Benz-Türk Lastwagen. Sie werden hier gebaut und in den asiatischen und russischen Raum ausgeliefert. Die türkischen Mitarbeiter zur Genauigkeit anzuleiten, sei eine sehr anstrengende Arbeit. Allein mit ihrer wohltuenden Höflichkeit würden sie es nie in die EU schaffen. Es tue ihm weh zu sehen, wie die einen hier stinkreich, die andern mausarm seien. Da müsse noch viel geschehen. Tatsächlich sehe ich überall bei den Kornfeldern kleine Zeltdörfer, wo die Habenichts aus dem Osten der Türkei zum Ernten angereist kommen. Wie bei uns in der Schweiz, aber ohne zahlenmässige Begrenzung. Es sind zwar Leute aus dem eigenen Land, doch eben mit sehr unterschiedlicher Kultur. Die türkische Ungenauigkeit hat auch etwas Lebenspendendes in sich. Eigentlich ist das Camp wegen Umgebungsarbeiten geschlossen. Da ich aber schon mal da bin, lässt man mich rein, wirft wieder Energie ins Netz und lässt das Wasser sprudeln. Dafür bezahle ich  pro Tag und Nacht acht Franken. Eigentlich ist das Camp geschlossen. Doch bin ich willkommen! So einfach ist das. Sooou schön!

 

Juli 2012 Teil 1                                                                               

 

Dich möchte ich jetzt sehen und hören, wenn Du weiterliest. Ein lieber Freund, Thomas Vogt, schickt mir folgendes Gedicht, frei nach dem Hohelied der Liebe, Kapitel 3, Verse 9-11:

 

„Verzaubert hast du mich,// mein geliebtes Womo!// Ein Lichtstrahl aus deinen Scheinwerfern,// und ich war gebannt.// Sag, birgt sie einen Zauber// die Technik in deinem Innern?/// Wie glücklich du mich machst// mit deiner Zuverlässigkeit!!!!!!!!!!!!!!!!// Mein Womo, meine Braut,// ich bin von deiner Schönheit// berauschter als von Wein.// Du duftest süsser noch// als jede Abgaswolke./// Wie Sonne ist deine Heizung,// mein Womo, wenn du mich wärmst,// und in deinem Kraftstofftank// ist süsse Dieselmilch.// Das Chassis, das dich ziert,// gleicht dem Arsch eines Pferdes// hoch auf dem Libanon.“

 

Zwischen Selimiye und Ihlara liegt die paradiesisch schöne Peristrema-Schlucht in den kappadokischen Tuff eingeschnitten. Der kleine Bach Melendiz Suyu kühlt den Talgrund zwischen den Weiden und Pappeln hindurch. In den steilen Wänden sind byzantinische Höhlenkirchen und Höhlenklöster in den Tuff geschlagen. In diesem Tal gab es also christliche Gemeinden unter den Seldschuken bis ins 13. Jahrhundert. Im 19. Jh waren die Griechen da. Einzelne Fresken wurden im 8. Jh gemalt. Leider sind, wenn nicht die ganzen Gesichter, so wenigstens die Augen aller Personen ausgehackt. Das Werk strenggläubiger Muslime. Anderswo taten die Christen ihrerseits dasselbe Verbrechen. So einen Höhlenraum zu betreten ist für mich atemberaubend. Ich muss mich erst fassen. Dann aber kann ich nicht anders als singen, singen, um diese wunderbaren Höhlenräume wieder zum Leben zu erwecken. Und sie tun es. Hörst Du mich? Siehst Du mich überall herumklettern? Eben mache ich ein Foto von mir, um zu schauen, ob ich es bin, der da am Boden liegt. Wie ein Käfer auf dem Rücken. Sehe ziemlich geschockt und hilflos aus. Ich weiss nicht, wie ich zwischen den Steinbrocken liegend wieder auf die Beine komme. Es hat mich hingehauen. Sag ich doch, das Tal ist umwerfend schön. Sooou schön!

 

Yaprakhisar am Eingang zur Peristrema-Schlucht wird im Baedeker nicht erwähnt. Dabei ist die umfassende Klosteranlage in Felsen gehauen ein Wunderding! In Nevsehir mache ich keinen Halt, denn mich zieht es sofort zu der unterirdischen Stadt Yeratlisehri in Derinkuyu. Über acht Stockwerke bis zu 55 Meter tief ist diese Stadt in den Boden gegraben, mit perfektem Wasser und Lüftungssystem. Ein Heizsystem erübrigt sich. Es bleibt da drin im Sommer und Winter gleich angenehm kühl, warm. Als Telefon zwischen den übereinanderliegenden Versammlungsräumen dient eine senkrecht gearbeitete Röhre. Jene unterirdische Stadt in Kaymakli, neun Kilometer entfernt, würde auch zwei Sterne verdienen. Die beiden Städte sind mit einem unterirdischen Tunnel von neun Kilometern verbunden! Einmal mehr haben sich Christen hier in unterirdischen Städten verborgen, geschützt.

 

Verborgen auch in Göreme, was so viel heisst wie: „Man sieht  mich nicht!“ Nur hier lebten die Menschen in Tuffsteinkegeln und Tuffsteinwänden, nicht im Untergrund. In solchen Höhlen und Kegeln leben sie teils heute noch. Hotels bieten sie als schicke Zimmer an. Was für eine skurrile, sprechende Landschaft in all seinen Erscheinungsformen, Kegel mit Pilzhüten und Zipfelmützen, mit Glatzen oder einfach stumme Säulen. Zwei ältere Herren bieten mir beim Cay vor einem Kunsthandelsgewerbe spontan einen Stellplatz an. Hier bleibe ich unterhalb von Üclisar mit Blick auf die zerklüftete Ebene von Göreme. Unbezahlbar diese Gastfreundschaft und diese Aussicht! Übrigens, diese beiden Herren gehören zu den dreissig Prozent Türken, die wissen, dass es eine Schweiz gibt. Sie haben in Deutschland gearbeitet. Siebzig Prozent der Türken haben keine Ahnung, dass und wo es eine Schweiz gibt. Also, keine Angst in der Schweiz von wegen Türkeneinfall. Wenn doch, so geschähe das aus Unwissen. Den nichtwissenden Türken lege ich jeweils eine Landkarte vor und bitte sie: Wie heisst dieses kleine Land Schweiz in türkischer Sprache? Sie finden keinen Namen dafür! Nein, ich übertreibe nicht. Es ist so!

 

Übrigens, es gibt seit Konya ostwärts keine grossen Flaschen Cola Zero mehr. Nur noch das traditionelle Cola oder eben das asiatische. Das heisst: der Tourismus wird ostwärts langsam dünn und dünner. In dieser Gegend werde ich immer mehr zum Findling. Das Cola Zero fehlt mir mehr als das Fleisch, auf das ich vorsichtshalber verzichte.

 

Ein kleines Seitental, Göreme Acikhava Müzesi, ist voll kleiner Kirchen in Fels gehauen mit wunderschöner Bemalung. Bedeutende Theologenpriester haben hier gehaust. Meist allein oder in kleinen Gemeinschaften. Zum Überleben haben sie sich kleinen Klostergemeinschaften angehängt. Unterhalten wurden sie von der Bevölkerung, die sie respektiert hat. Zum Glück sind die Werke seit UNESCO als Freilichtmuseum geschützt. Das hindert mich nicht, versteckt blitzlose Bilder zu schiessen. Nur für Dich! Drei Bilder prägen sich mir besonders ein. Die Dreikönige sind deutlich altersgestuft: Ein Junger, ein Mittelalterlicher, ein Alter. Im zweiten Bild sitzt Maria auf dem Esel auf dem Weg nach Bethlehem. Darüber stehen ihre Worte geschrieben wie sie zu Josef sagt: „Bitte, lass mich vom Esel runter. Ich kann nicht mehr!“ Im dritten Bild trinkt Maria wie aus einem Weinkrug. Es ist der Jungfräulichkeitsbeweis. Wie das funktioniert, müssen mir Theologen und Biochemiker zugleich beantworten. Ich habe keine Ahnung davon.

 

Dutzende von Ballonfahrzeugen in dieser touristischen Region von Kappadokien bleiben mitsamt den Ballonen regungslos am Boden. Die Miniscooter unbewegt. Es fehlt am 6. Juli noch an Touristen. So hocken die Einheimischen ebenso regungslos herum und plaudern mit mir. Komm doch bitte Morgen wieder vorbei!

 

Neben meinem Womo hält ein Pferdegespann, geführt von einem alten Männlein. Ein Hufschmid hält sein Motorrad an und verpasst dem Geduldigen neue Schuhe. Der Lautstärke wegen kann ich mit Sicherheit sagen, die verhandeln zuerst den Preis! Jetzt kehrt Ruhe ein. Es wird geschnitten und gehämmert. Die Glückszeichen haften an den Hufen, wo sie hingehören, sehr geschickt und flink angebracht. Ich staune. Nach getaner Arbeit zieht der Fachmann so was wie einen Boxhandschuh von seiner Rechten. Zum Vorschein kommt ein total verkrüppelter Handstumpf. Ich verneige mich ganz still.

 

Auftanken. Tankstellen für Diesel und LPG-Gas, das will ich für meine „Nachfahren-den“ erwähnen, gibt es in der Türkei zur Genüge. Die Gashändler haben hierzulande keine Berührungsangst, meine fixen Gasflaschen wie ein flüssiggasbetriebenes Auto mit dem Schlauch zu füllen. Auch den Wassertank kann ich bei Bedarf mit zweihundertzwanzig Litern nachfüllen. Abgekocht trinke ich dieses Wasser auch ohne Schaden.

 

Von Göreme fahre ich dreihundertfünfundsechzig Kilometer über Kaiseri und Sivas Richtung Ost. Es gibt kaum mehr historische Ausgrabungsstätten. Die Reiseliteratur weiss über den Osten der Türkei nur noch wenig zu berichten. Darum komme ich gut voran. Das weite Gebiet um den 3917 Meter hohen Erciyes, einem Doppelvulkanberg mit Schneedach, ist von Vulkanerde bestimmt und fruchtbar. Vom Korn wechselt die Ernte ostwärts zu Kartoffeln. Oft möchte ich anhalten und die Landschaft geniessen. Die doppelspurige Strasse ist aber ohne Ausstellplätze gnadenlos geradeaus gebaut. Die winzigen Abzweigungen führen jeweils zu einem Weiler oder Dorf. Kein Platz für mein Gefährt. So nehme ich die wechselnden Bilder im Fahren in mich auf. Ich bin berührt von der Fruchtbarkeit in den Ebenen und im Talgrund und gleichzeitig von der Kargheit der Vulkanhügel. All das bei guter Gesundheit zu „erfahren“ bewegt meine Seele. Ein paar Taizelieder auf meinen Lippen geben diesem Gefühl des Staunens und der Dankbarkeit Ausdruck. Und ich denke auch an meine Lieben, die es schwer haben! „Gott, lass meine Gedanken sich sammeln zu dir. Bei dir ist das Licht. Du vergisst mich nicht. Bei dir ist die Hilfe, bei dir ist die Geduld. Ich verstehe deine Wege nicht, aber du weisst den Weg für mich“.

 

Das Womo klettert zweimal über Pässe von über zweitausendeinhundert Metern Höhe. So erreiche ich Erzincan und schliesslich Erzurum. Erzincan wurde 1999 durch ein Erdbeben zerstört und wiederaufgebaut. Erzurum 1939 zerstört mit 40 000 Toten! Erzurum liegt an der Haupttransitroute Nordwesttürkei-Iran und an der alten Seidenstrasse von Persien zum Schwarzen Meer. 

 

Eine Dame macht bei der Hausbesichtigung im Kühlschrank meines Womos eine schreckliche Entdeckung. So ihr finsteres Gesicht! Sie nimmt ihr Mädchen in die Arme! Das sind doch Kinderschwimmflügeli! Ich zögere keine Sekunde, dem Schrecken ein Ende zu bereiten. Ihr Gesicht hellt sich wieder auf, als sie die Funktion erkennt. Das sind Platzhalter in meinem Kühlschrank während der Fahrt, damit nicht alles durcheinander gerät. Aufgeblasen sind sie sperrig. Sie haben kein Eigengewicht. Sie lassen sich klein zusammenfalten im Tausch mit Esswaren. Meine Erfindung, auf die ich stolz bin. Der Anblick im Kühlschrank mag skurril wirken. Die Flügeli bewähren sich doch!  Du denkst jetzt, was liegt denn da noch alles im Kühlschrank? Da war doch schon mal ein Wecker drin!

 

Auf den letzten dreihundert Kilometern zum Van-See hat sich Grenznähe zu Georgien, Armenien, Azarbaygan, Iran, Irak und Syrien bei der Polizei und der Armee abgezeichnet. Vor den Polizeistationen stehen Panzerfahrzeuge bereit. Die Armee hat ihre häufigen Kontrollpunkte mit Sandsäcken befestigt. Der Privatverkehr kommt aber immer noch unkontrolliert durch. So auch mein Gefährt. Die Strasse ist auf den letzten zweihundert Kilometern sehr schlecht, aber im Bau. Es fehlt noch der Asphalt. Der gewalzte Koffer ist wirr mit groben Steinen übersät, damit niemand sich erfrecht, diese Piste zu benutzen. Die Strasse sieht aus, als hätte sie die wilden Pocken. Die Steine müssen vor dem Asphaltieren über Kilometer wieder weggeräumt werden. Sie wirken aber hundertprozentig besser als jedes Verbot für Autos, Pferdegespanne und Eselshufe! So hüpfe ich wieder einmal auf der alten Strasse von Loch zu Loch, weil es zu viele sind, um sie zu umfahren. Im Gegenverkehr halten alle Fahrer eine Hand an die Frontscheibe, damit sie, getroffen von allfälligen kleinen Steingeschossen, nicht zerspringt. Mit den Strassen ist es so: Entweder sind sie sehr gut, oder im Bau! In drei bis vier Jahren kann man auf den Hauptstrassen in der ganzen Türkei bestimmt wie auf einem Teppich fahren. Die Strassenbauerei ist voll im Gange.

 

Der Van-See, mein östlichstes Ziel in der Türkei, hält sich verschleiert mit Boden- und Hochnebel. Andeutungsweise erkenne ich am Ufer, wie wunderbar dieser See liegt. Auf 1646 m Höhe gelegen. Er hat keinen Abfluss und ist sodahaltig. Ein Badevergnügen. Mit 80 km Länge und 40 km Breite ist er sieben Mal so gross wie der Bodensee. Die ganze Türkei ist mit 814578 km2 zwanzig Mal grösser als die Schweiz. Bisher bin ich in der Türkei eine Strecke von 3800km gefahren und vom Startort Vilters aus sind es gar 6000 km. Diese Zahlen sind punktgenau, weder auf noch abgerundet.

 

Vor der Bevölkerung im Osten wurde ich gewarnt. Sie denken anders als die im Westen. Dazu ein Beispiel. Ich kaufe unterwegs an einem mausarmen Kiosk fünfzehn Eier. Das Rückgeld von 25 Cents soll der Händler behalten. Nein, sagt er ganz bestimmt, das kommt nicht in die Tüte und steckt mir noch zwei Eier rein. So auch am Van-See beim Tanken. Auf den Cent genau! Kein Trinkgeld! Dafür gibt’s gratis ein Glas Cay und ich darf kostenlos auf diesem Areal sicher die Nacht verbringen. Herrliche Menschen, auch die im Osten, nur wissen es die im Westen der Türkei nicht. Das ist oft so im eigenen Land!

 

Einen Tag nach Ankunft am Van-See sitze ich auf dem Burghügel der UNESCO am See. Je länger ich da hocke, desto mehr hebt sich der Nebelflor bis ich die ganze Stadt und die Gebirge dahinter sehen kann. Auch über dem See hebt sich der Schleier. Wetterglück bei meiner Ankunft. Um den Hügel herum breitet sich hufeisenförmig die Stadt aus. Zwischen den Häusern sehe ich fünf grosse Flächen voller Kontainerhütten. Darin sind Erdbebenopfer vom Erdbeben dieses Jahres untergebracht. In der Altstadt wimmelt es zwischen den brüchigen Häusern von Leuten, als setzten sie auf Alles oder Nichts. Die Arbeitslosigkeit betrifft jedes Alter. Unten am Schlosshügel frage ich einen sehr hilfsbereiten Kulturbeauftragten, ob ich hier nachts sicher stehen kann? Er berät sich sofort mit einer Polizistin. Sie meint, sicher sei ich überall. Ich könne da stehen bleiben. Nur rate sie mir etwas ausserhalb von Van zu fahren, zB nach Edremit. In Van, dreihundertsechzigtausend Einwohner, seien die Kinder am Stadtrand zwar nicht böse, aber sie könnten mich mit Anklopfen und Betteln nachts stören. Der Kulturbeauftragte meint auch, ich solle nachts nicht vor Polizeigebäuden oder Militäranlagen Schutz zu suchen. Die seien Ziel Nummer Eins bei Terroristen.

 

Nach einem zünftigen Bad im Sodawasser des Van-Sees bei Edremit lege ich mich bald schlafen. Um 0.43 erwache ich beim Fremdversuch, meine Garagentüren zu öffnen. Ein Auto fährt langsam davon und parkt etwa fünfzig Meter weiter vorn wieder. Von Mücken weiss ich, dass sie oft auch ein zweites, drittes Mal ansetzen, bevor sie zuschlagen. Also nehme ich meine P14 zur Hand, steige aus dem Wohnmobil und lasse das Tatfahrzeug in hellem Glanz erscheinen. Das bekommt dem lichtscheuen Gesindel gar nicht gut. Sie ziehen es vor, den Platz zu verlassen. Jetzt aber sofort wieder schlafen, sonst bin ich am Morgen schläfrig und müde. Um 3.43 werde ich noch einmal geweckt. Es ist der Muezzin, der in die Nacht hinausruft: Beten ist besser wie Schlafen…. Und Rauben besser wie Beten, ergänze ich als Frage…. Dann zitiert er einen endlosen Jammergesang, wie  mir scheint, als möchte er den Überfall auf mich vor Allah beklagen. Wieder schlafen. Am Morgen hockt ein alter, zahn- und mausarmer Zeltbewohner am Rand des Vansees dicht neben meinem Wohnmobil und beäugt es still. Ich dusche, frühstücke, mache mich fertig zur Abfahrt und gehe dann raus, um das Gefährt von den Stützen auf die Räder zu bringen. Der Alte hockt immer noch da. Wortlos. Ich spreche ihn an. Er will nichts, ausser mir sagen: güzel, schön! Nur schon  während einer Stunde oder länger neben einem schönen Wohnmobil zu sitzen, muss ein erhebendes Gefühl für ihn sein. Ich winke ihm zu einzusteigen, um es von Innen zu besichtigen. Das tut er zögernd. Nur kurz. Beim Aussteigen will er sich mit einer Zigarette bei mir bedanken! Wie wahnwitzig! Der, der nichts hat, bedankt sich bei dem, der alles hat, für einen Blick auf das, was er noch nie gesehen und im Leben nie besitzen wird. Was er jetzt hat, ist ein Blick in eine andere Welt, die es offenbar irgendwo auf dieser Erde gibt. Ich würde mich schämen, hielte ich mein Womo vor türkischen Augen total verschlossen und würde ich mit diesem Protz durch ihr Land fahren. Meine Offenheit rettet meine Seele. Weil ich immer wieder erfahre, wie viel Freude es Einheimischen bringt, dieses elegante Wohnhaus von Innen zu besichtigen, kann ich so weiterfahren. Männer, Familienväter bitten mich, mit ihrem handy Fotos machen  zu dürfen, um sie ihren Freundinnen, Frauen und Kindern zu zeigen. Selbstverständlich auch ein Foto mit mir an ihrer Seite, weil ich dieser gottbegnadete Imam, Rahib, Papas, Pfarrer bin, vor dem sie sich in Ehrfurcht und Stolz auf die Begegnung verneigen.

 

Ich bin dabei, um den Van-See zu fahren. Ich kenne dieses Volk hier nicht. Auch führt der Weg ins Gebirge, statt grösstenteils dem See entlang. Strassensperren. Häufiger Panzerfahrzeuge auf der Strasse. Die Strassen mit erschütternden Baustellen übersät. Ich komme durch. Ziemlich abenteuerlich dieses Unterfangen. Mit wunderschönen Tälern und Weiden. In Tatvan faselt einer an der Kasse, sie seien Kurden, nicht Türken. Aufgepasst. Jetzt muss ich die Sprache kennen, um keinen Fehler zu machen. Aber wie? Ob das gut gehen wird? An der Westküste fahre ich weiter nach Ahlat. Hier springt ein Junge daher und pfeift mir, ich solle zur Imbissbude kommen. Hier bin ich willkommen! Kann nicht schaden. Ein Gespräch zur Klärung, wo ich gelandet bin, täte mir gut. Es gibt hier Wasser, um die Frontscheibe klar zu kriegen. Ein grosses Hallo von der ganzen Crew. Womo besichtigen. Nein, das Autowaschen kostet nichts. Die vielen Cays auch nicht. Ja, schwimmen kommen wir auch mit dir. Natürlich kannst du hier die Nacht sicher schlafen. Du fährst mit mir zurück in die Stadt. Ich gehe einkaufen. Der Ingenieurstudent, der einzige der englisch spricht, stellt mir auf dem Markt einen Fruchtsalat zusammen. Er ist der Sohn des Chefs, der mit der Imbissbude das Geld macht. Am Abend füllt sich der ganze Platz mit zwanzig Lastenzügen. Die Driver kommen hier essen. Zum Teil schlafen sie hier. Einer muss gleich weg in den Iran. Verabschiedet sich mit der Hand. Diese Lastwagenchauffeure sind für mich die Helden auf den türkischen Strassen. Sie besichtigen alle mein Womo. Ich bin ihnen ja zum Teil begegnet, habe sie überholen lassen. Sie bitten Fotos machen zu dürfen. Hei, so ist das. Für Morgen bin ich mit der ganzen Imbisscrew zum Frühstück verabredet. Dann geht’s zum Schwimmen und schliesslich fährt mich der Sohnemann in die Stadt zum Internetcafe, damit Du diesen Bericht bekommst. Die Türken überbieten sich an Gastfreundlichkeit. Mir tun alle jene leid, Bauern und Strassenarbeiter, Kinder, Jugendliche und Erwachsene, die mir mit offenem Mund zuwinken, während ich an ihnen vorbeifahre. Meine Crew ist auch stolz, dass ich Ahtamar, jene armenische Kirche auf der Insel im Vansee besucht habe. Sie werten diese Kirche als Zeichen ihrer Offenheit gegenüber Christen.

 

Warum ich unverheiratet bin, mag von West bis Ost in keinen türkischen Schädel. Sie bedauern meinen lebenslänglichen Zustand. Fast erliege ich ihrem Bedauern. Da flüstert mir mein geliebtes Womo ins Ohr: „Denk an das Gedicht von Thomas! Du bist nicht allein. Du hast ja mich! Die letzten sechstausend Kilometer habe ich dich ohne Mucken und Murren durch fremde Länder gefahren. Habe dir Begegnungen ermöglicht. Wäre ich nicht gewesen, hätten dich viele Menschen übersehen. Durch dick und dünn, durch eng und weit, mal schnell, mal langsam war ich immer an deiner Seite.“ Dieser Gedanke entlockt mir in Tat und Wahrheit ein dankbares: Soooou schöööön!

 

Juli 2012 Teil2                                                                                

 

Keine Ahnung von geologischer, tektonischer Gestaltung. Welche Überraschungen. Auf meiner Türkeikarte sind vom Van-See bis zum Schwarzen Meer (Kara Deniz) noch zwei Passhöhen eingezeichnet. Der Rest dürfte friedlich verlaufen. Um den Berg Ararat herum erwarte ich weitere Gebirge. Von wegen! Erst mal ist da nichts als eine riesige Ebene, die den heiligen Berg, um den die Türken und Kurden streiten, umgibt. Auf der Weiterfahrt der Ostgrenze entlang durchfahre ich Hochebenen mit grossen Städten auf einer Höhe von mehr als 1600 Metern. Wiesen mit Viehherden, Ziegen und Schafen bis über 3000 m Höhe. Dann wieder bizarre Lawaergüsse, durch die es weder für Mensch noch Tier ein Queren gibt. Sommerquartiere über zweitausend Meter mit Lehmziegeln erbaut, mit Plastikplanen abgedeckt. Holzhütten mit Blechdach. Bis auf 2500 m Höhe. Von 2570m geht’s mit mir über Haarnadelkurvenpässe in gähnende Tiefen bergab bis auf fast Meeresspiegel und wieder über 2000 Meter bergauf. Viel Arbeit beim Lenken. Das pontische Gebirge fällt direkt ab ins Schwarze Meer. Ich erreiche das Schwarze Meer bei Hopa, dicht an der georgischen Grenze. Die Hänge entlang des Gebirges sind mit Büschen und Laubbäumen dunkelgrün eingepackt. Kein Durchkommen. Ein tropischer Anblick. Tropisch auch das feuchtheisse Klima auf der Haut. Aus den Seitentälern fliessen Bäche und Flüsse direkt ins Meer. An ihrer Mündung lagern die Städte, als seien sie der Flüsse Geschiebe. Meist ein wirres Durcheinander. Eine zweispurige Autostrasse trennt entlang dem pontischen Gebirge alle Städte vom Meer. Zum Baden vor der eigenen Haustüre im Meer klettert die Bevölkerung entweder über Fussgängerbrücken oder über Leitplanken und quert so die vier bis sechs Spuren. Hundertausende versuchen so stündlich, heil die Strassen zu überqueren. Wie hässlich. Für uns Autofahrer sehr praktisch, immer dicht dem Meer entlang. Wunderschönen Sonnenuntergängen entgegen und auf der richtigen Seite zum Baden. 

 

Das Müllproblem. Häufig gibt es dem Meer entlang kleine Parkplätze oder breite Pannenstreifen, auf denen man stehen bleiben kann. Mit Plastikschuhen geschützt, schaffe ich es dann durch den allgegenwärtigen Müll zum Schwimmen im Meer. Es wird den Staat eines Tages Milliarden kosten, ein allerorts, auch im Innern des Landes, funktionierendes Müllabfuhrsystem zu schaffen und die Leute zur Sauberkeit anzuhalten. Die Türken schmeissen einfach alles um sich. Der Nächste stolpert darüber hinweg oder schneidet sich die Füsse wund. Jedes Detail wird weggeschmissen. Da bin ich immer noch vorbildlich!  Ich sammle all meinen Abfall in Plastiksäcke, binde sie zu und schmeisse sie erst dann aus dem Fenster! Wo sonst? Mich ekelt davor. Das Meer wehrt sich noch. Es schmeisst allen Unrat wieder zurück an den Strand. Ich und Mutter Erde sind hilflos. Gegen das Müllverhalten von 75 Millionen Türken, Kurden, Araber, Tscherkessen, Georgier, Lasen, Armenier, Abchasen, Tschetschenen, Yeziden, Ubychen, Griechen, Bulgaren, Albaner und andere, die in der Türkei leben, kommen wir - ich mit meinem kleinen Besen - einfach nicht an.

 

Campingplätze oder Stellplätze gibt es für mich seit drei Wochen keine mehr. Wenn ich dieses Wort  am Schwarzen Meer wieder entdecke, reicht das grad mal für einen Personenwagen mit Zelt. Ich parke entsprechend immer gleich neben der Strasse. Im Gebirge nachts am Ruhigsten. In den Städten und am Schwarzen Meer etwas laut. Ich erwähne das, damit Du nicht meinst, ich liege dauernd unter Palmen auf gesicherten Plätzen. Eher im Strassengraben. Das Innere meines Womos ist aber so schön, dass ich in Sachen Parkplätze, wo auch immer, zufrieden bin. Im Nachhinein höre ich, Terroristen haben in Van sechs Polizisten weggesprengt. In Bulgarien Juden mit in den Tod gerissen. Und in Syrien ist die Hölle los. 

 

Ich bin jetzt in Sinop am Schwarzen Meer, wo Diogenes so um 400 v.Chr. geboren wurde, als die Griechen noch die Türkei bevölkerten. Was sich damals Umwälzendes getan hat! Bisher war man Bürger eines Stadtstaates, einer Polis. Dieses System war am Wanken.  Diogenes begriff einen bedeutenden Wandel, eine Befreiung von diesem Geburtsstadtzwang. Er nannte sich Weltbürger! Meinte damit so etwas wie Naturbursche: „Wer nicht blind ist, muss erkennen, dass ein neues Ethos, eine neue Anthropologie fällig geworden sind; man ist nicht mehr engstirniger Bürger einer zufälligen Stadtgemeinschaft, sondern muss sich als Individuum in einem erweiterten Kosmos begreifen.“ Ersetze Stadtgemeinschaft (Polis) mit Staat und Du findest das Thema der Globalisierung vor. Die Grundsätze seiner Philosophie waren Kosmopolitismus, Autarkie, Bedürfnislosigkeit und Parrhesie (freie Rede). Diese Begriffe sitzen bei mir: Weltenbürger! Selbstbestimmer, -versorger! Schwatzen, schreiben, was ich will! Bedürfnislosigkeit! Meine Bedürfnislosigkeit? Ja, schliesslich habe ich kein Haus, keine Wohnung in der Schweiz. Lebe auf wenigen Quadratmetern. Brauche kein eigenes Stück Land. Lebe ohne Frau und Familie. Ist das nicht die pure Bedürfnislosigkeit? In meinen Augen schon! Aber wenn ich die hunderttausend allgegenwärtigen, staunenden Augen der Türken sehe, ist mein Lebensstil die reinste Verschwendung! Meine Bedürfnislosigkeit? Ich habe mir zu Beginn dieses Schreibens Wasser für einen Kaffee aufgesetzt. Ich prahle mit meiner Bedürfnislosigkeit und versklave mich, zwei Bedürfnissen gleichzeitig zu dienen. Kaffeewasser kochen und Schreiben. Jetzt ist gar nichts mehr in der Pfanne und es stinkt! Ich glaube, das hat Diogenes mir angetan! Der Kerl ist hier geboren und erteilt mir zweieinhalbtausend Jahre später noch eine Lehre.  Neider seiner Bescheidenheit sollen über ihn gesagt haben, dem würde ein Fass als Wohnung genügen. Diogenes wurde aus Sinop vertrieben. Als man ihm in Athen die Vertreibung vorwarf, war seine Antwort: „Und ich habe die Sinoper zum Bleiben verdammt.“ Nun denn, lieber Diogenes, lasse ich mein Fass wieder rollen!  

 

Wegen eines schlechten Teilstückes dem Meer entlang soll ich von Inebolu lieber ins Landesinnere ausweichen. Das bedeutet drei Tausender Pässe. Bei Cide komme ich wieder ans Schwarze Meer. Die nächsten siebzig Kilometer sind reinste Steilküstenfelskletterei. Mein Zielort ist Amasra, ein beliebtes Ausflugstädtchen. Es liegt wunderschön in der Hafenbucht zu einer kleinen Halbinsel hin gelegen. Ich erreiche es kurz vor Sonnenuntergang. Malerisch. Durch Verkaufsgassen hindurch diktieren mich Passanten ohne weiteres zu einem am Hafen gelegenen PW Parkplatz. Nichts für mein grosses Ding. Doch inmitten von Verkaufsständen muss ich wenden und durch die Touristengässchen wieder den Weg aus dem Labyrinth hinaus finden. Showparade ohnegleichen! Ich suche weit oberhalb der Stadt einen Nistplatz und finde ihn mit Blick auf Amasra by night. Fünf Männer kauern im Gras und rufen mich sofort zu ihrem Gelage. Grillparty. Sie hatten einen Tag frei und sind auf dem Heimweg.

 

Am Abend in Amasra kommt das entscheidende SMS bei mir rein: „Meiner Schwester Helen geht es sehr schlecht!“ Ich entscheide mich morgen, Donnerstag, 19. Juli 2012 sofort die direkte Heimreise anzutreten. Der lange Heimweg wird mich gegen alle Traurigkeit beschäftigen. Landeinwärts gibt’s breite Strassen und schliesslich treffe ich auf die perfekte Autobahn Ankara-Istanbul. Was in Konya die Kornfelder, sind vor Edirne die Sonnenblumenfelder. Welche Flächen! An Istanbul, der vierzehn Millionen Stadt stottere ich über die Bosporusbrücke vorbei. Nach 700 km treffe ich wahrscheinlich meinen Lebensretter und den vom Womo auch. Der Tankwart an der Autobahntankstelle stellt sofort fest, dass mein linker Vorderpneu recht wenig Luft hat. Ich habe das andere Fahrverhalten des Womos  dem Wind und den Fahrrinnen zugeschrieben. Er sieht auch schon das Corpus delicti. Ein platter Schraubenkopf schmiegt sich dem Pneu an. Der Rest steckt tief drin. So ein Pech, sagst Du? So ein Glück, sage ich. Der Tankwart ruft einen Pneumech an. Der kommt mit dem Auto vorbei und holt sich meinen defekten Schuh ab. Geflickt wird er in seiner Werkstätte. Ich bekomme einen Türkisch-Kaffee serviert fürs Warten. Wie es ums Bezahlen geht, packe ich all meine Türkisch-Liren ins Dieselgeld, um sie loszuwerden. Ich werde das Land verlassen. Kein Restgeld. Was aber mit dem Pneumech? Da fährt der erste und einzige Türkisch-Schweizer meiner Begegnung mit Frau und Kind und Aargauer Nummer vor. Gibt’s ein Problem? Er wechselt mir einen zwanzig Euroschein, wobei er noch draufzahlt und dolmetscht. Die Pumpe kriegt die nötigen 8,5 Atü nicht hin. Ich bitte den Mech, ihm zu seiner Bude hinterherfahren zu dürfen, um das Problem bei ihm zu lösen. Ab geht’s durch Berechtigtenschranken von der Autobahn hinten herum. Bei seiner Werkstatt lädt mich der Mech zum Kaffee ein. Ich werde nie mehr etwas Abschlagen, auch wenn`s eilt nicht. Kommt ein Deutsch-Türke aus Fürth daher. Darf ich mich zu euch setzen? Jetzt habe ich wieder einen perfekten Dolmetscher zur Hand. Cay und Kaffee sind wie immer gratis! „Dem der alles hat, wird noch dazu gegeben“, das Leben, das Womo, Tee und Kaffee! Was bin ich ein mit Glück überhäufter Mensch! Ohne Begleitung fahre ich zurück auf die andere Autobahnseite. Schranke vorschriftsgemäss geschlossen. Hupen und Gestikulieren wirken auf Hör- und Sichtweite. Die Schranke öffnet sich. No problem! 

 

Nach den heutigen siebenhundertfünfzig Kilometern bin ich wieder auf dem Camp in Edirne, an der Grenze zu Bulgarien. Hier habe ich die Türkeireise im Land selber begonnen. Anreise vom 1.-6. Juni. Türkei vom 6. Juni bis 20. Juli 2012. Sechstausendfünfhundert Kilometer bin ich in der Türkei herumgekurvt. Einige Türken meinen, ich würde ihr Land besser kennen wie sie. Sie können sich finanziell keine grossen Inlandreisen erlauben. Unglaublich gastfreundliche Leute all überall. Herzliches Grüssen am Wegesrand, als ob im vorbeihuschenden, dreitagebärtigen Wesen ein Engel stecke, dem gegenüber man sich gastfreundlich verhält. Lächeln und Winken. Bescheidenheit. Anstand. Keine Aufdringlichkeiten. Keine Betteleien. Keine Feilschereien mit dem reichen Ausländer. Auch nach dem Cay an der Kasse des kleinen Marktes keinen Cent Trinkgeld annehmen. Der Strassenbauboss zückt seine Karte; der Cyber-Kriminalbeamte, dessen Frau, Tochter und Sohn perfekt Englisch sprechen, auch; die Englischlehrer; die Textilfachfrau mit dem eigenen Geschäft; der Öko-Student; die Frau mit ihrem Sohn in Kanada, den sie zum Dolmetschen anruft; der Lastwagenfahrer, der dreimal nachts seinen Bruder anruft, damit er unseren Dialog, den wir mit Händen und Zeichen führen, zur Sicherheit übersetzt; der junge hörbehinderte Student, der mich zu Fuss in die Stadt führt und mich beim Abschied herzlich drückt, als hätte er einen wahren Freund gefunden. Hat er auch; der kurdische Tankwart, der sich beim schmerzenden Abschied tief verbeugt, meine Hände küsst und mit feuchten Augen zu mir aufblickt; alle zücken sie ihre Karte oder bitten mich, Ihre Telefonnummer zu merken. Wenn Du irgendein Problem hast, ruf mich bitte an! Gott sei Dank habe ich keine Hilfe benötigt, oder eben Hilfe vor Ort gekriegt. Aber ich weiss, auf die Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft dieser Menschen ist Verlass! Kurzbesucher bitten, mit mir und dem Womo zusammen Fotos machen zu dürfen, damit sie ihren Freunden erzählen, was sie da gesehen und wen sie angetroffen haben! Stell Dir ein Land vor, wo es das noch gibt?  In der Türkei!

 

Mutter Erde danke ich, wie sie mich und mein Womo getragen hat. Wie sie mir ihre Berge und Hügel, ihre Fluren und Wälder, ihre Fruchtbarkeit und Kargheit offenbart hat, ihre sanften Höhen und erschreckenden Abgründe. Ihre Seen und Meere, in denen ich mich kühlen und ertüchtigen kann. Für die paar kurzen Gewitter und die kühlen Nächte, danke ich, für die sengende Sonne jeden Tag, für den Wind und den Schatten, die mich bergen. So nehme ich bereichert und erfüllt Abschied von einem Land und Leuten, das, die ich nicht gekannt habe.

 

Durch mein Studium, dem ich meinen wunderbaren Beruf verdanke und mit meiner ganzen Person ausgefüllt habe, wurde mein Interesse an Geschichte und Kultur geweckt. Jetzt darf ich wieder einiges davon begehen, betasten, befühlen, schauen und mich erinnern. Für diese Spuren der Geschichte bin ich dankbar. Sie zeigen mir auf, was Menschen durch Jahrtausende geschaffen und geleistet haben und wie ganze Kulturen doch wieder zerfallen sind. Mensch, nimm dich nicht so wichtig! Du wirst aber reich beschenkt, wenn du den Augenblick lebst und dem Leben nicht mit irgendwelchen Wenn und Aber und Vertröstungen ausweichst.

 

Ich habe mir vorgenommen durch Griechenland nach Igoumenitsa zu fahren und dort die Fähre nach Ancona zu nehmen. Das wird mir einige Kilometer auf Autobahnen verkürzen und eine Ruhephase gönnen. Fehlplanung. Ich vernehme, die Griechen stechen nur noch selten und zeitlich unzuverlässig in See. Da könnte ich hängen bleiben. Also doch auf dem Landweg. Wie gekommen, so zurück. Von Edirne durch Bulgarien bis zur bulgarisch-kroatischen Grenze. Durch Kroatien, Slowenien, Österreich nach Salzburg. Der Reiseverkehr hat um ein Vielfaches zugenommen. Es gibt beachtlich viele Schweizer Auto-Nummernschilder. Die Belegschaft weisst aber ausländische Pässe vor. Ihr Heimaturlaub. Im Karawankentunnel gibt’s einen Unfall. Um dem Stau auszuweichen, fahre ich bei strömendem Regen auf 1500m Höhe über den haarnadelkurvigen Loidlpass. Da übt sich mein Womo bergab im Handstand. Und grad geht’s weiter über Chiemsee nach München und über Lindau, Bregenz in die Schweiz bis Vilters. Nochmals 1130 Kilometer, oder anders gesagt: 2717 Kilometer in drei Tagen, das macht sogar mich müde! Seit meinem Reiseantritt am 1. Juni sind es 10474 Kilometer auf Achse. Meine Pferde und die Kutsche haben diese enormen Strapazen bestens überstanden. Ankunft am Sonntag, 22. Juli 2012 in Vilters. Ich fühle mich sehr behütet und geschützt, bereichert und glücklich, all dies erlebt haben zu dürfen. Gott sei Dank!

 

Meine, unsere Schwester Helen liegt im Spital Walenstadt. Diese Leidensgeschichte dauert nun ein halbes Jahr an. „Es geht immer ein bisschen bergauf und mehr bergab“, sagt Helen. Sie leidet sehr viel und ist müde geworden. Sie will sterben. Ihren Mann, ihre Familie, uns und sich von diesem Leiden erlösen, wie sie sagt. Wir hätten jetzt alle genug gelitten. Nach der Trauer würden wir von Erlösung reden.      

 

Vor einem Jahr habe ich meine Reise mit dem Wohnmobil begonnen. Du hast meine Berichte gelesen, mich in Gedanken begleitet, Anteil genommen. Du weisst, wie ich meinen Weg gehe. Das freut mich und hält meine innere Beziehung zu Dir wach. Über all unsere Begegnungen, auch auf elektronischem Weg, werde ich mich auch in Zukunft sehr freuen.

 

Voll Dankbarkeit wünsche ich Dir und Deinen Lieben alles Gute. „Ich geh mit dir auf deinem Weg!“  Dieses Lied, das wir in St. Gallen oft gesungen haben, klingt jetzt in mir.

 

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