2015 Mai
Dank deinem häufigen Aufrufen meiner Webseite erlange ich einen unglaublichen Bekanntheitsgrad. Peter googelt in Patagonien nach „lorenz unterwegs“. Sofort erscheint unter 470 000 Antworten meine Webseite an erster Stelle! Ich will mich mit meinem Chef im Vatikan-Gästehaus messen und schreibe „Franziskus“. Der erscheint auch an erster Stelle unter 4 320 000 Antworten! Ich bin trotzdem stolz auf mein Ergebnis, findet man uns beide doch an erster Stelle.
Gerda bringt mir ein selten frisches, schmackhaftes Brot. Es könnte ein Schweizer Brot sein, so fein. Beim Kauen finde ich darin ein Gold Nugget! Jawohl, es stammt aus dem Gehege meiner Zähne. Notfall! Gerdas Dentist kann mir das Nugget nicht wieder einbauen. Das Fundament ist zu ausgebrochen. Für die Untersuchung und das Röntgen-Bild verlangt der Zahnarzt keinen Cent! So grosszügig!
Nevada Auto Diagnostics in Reno bekommt wie von TNT versprochen nach zwei Arbeitstagen die Bremsteile und anderes Zubehör aus der Schweiz angeliefert und baut sie ein. Stopp! Es gibt Probleme mit den Teilen am rechten Vorderrad. Mr Fürk, Mr Zumbühl, Mr House and his Mechs, Mr Cassidy, Mr Van Sickel and Mr Neil arbeiten erneut auf Hochdruck und schicken mir Tag und Nacht (neun Stunden Zeitdifferenz zwischen Schweiz und Nevada) Neuigkeiten, als handle es sich darum, eine Marslandung zu retten. Ich beliefere sie mit technischen Fotos und versuche die Zusammenhänge zu verstehen. Mir sind die deutschen Fachausdrücke in meiner Mutter- und Vatersprache ganz neu, noch fremder die englischen, aber ich lerne. Ich fühle mich von meinen Lehrmeistern auf beiden Kontinenten total betreut. Soooou schöööön!
Trotz der Gelassenheit gegenüber den technischen Problemen, wetteifere ich mit der Zeit. Theres und Hans, meine Schwester und mein Schwager, der sich mit enormem Wissen für mich einsetzt, hängen dummerweise mitten in meinem Zwangsstopp verwickelt drin. Nach unserem Plan werden sie am Montag, 11. Mai (bereits in sechs Tagen) in Vancouver von mir am Flughafen abgeholt. Ob ich das schaffen werde? Diese Verunsicherung tut mir für, sie sehr leid und belastet mich. Alles andere kann ich anpacken. Sie aber überlegen sich bereits, ihren Flug um eine Woche zu verschieben! Das darf nicht wahr sein!
Kerry Cassidy, meinen australisch-schweizerischen Fachmann und Übersetzer in Arbon, den ich am Nordkap in Europa kennengelernt habe, will ich zu seinem Reisebeginn am 8. Mai in Vancouver überraschen. Daraus wird wohl auch nichts.
Mittwoch, 6. Mai, 14:20 Ich darf mit meinem Womo eine Probefahrt machen. Die Bremsen funktionieren tüchtig. Beim Bezahlen wird meine Master Card abgelehnt. Nächste Panne? Ich rufe die Notfallnummer an. Aus Sicherheitsgründen wurde die Karte zum Bezahlen dieses grösseren Betrages gesperrt und während meinem Anruf wieder freigegeben. Auch das musste so sein, denn in diesem Moment (seine Uhr zeigt 00.30) telefoniert Kerry Cassidy aus der Schweiz. Er will sich orientieren, wie die Dinge sich entwickeln und bittet mich, alle alten und neuen nichtgebrauchten Teile in die Schweiz zurück zu führen. Versprochen. Was bin ich jetzt erlöst. Der junge Mech, Theo mit Namen, fragt mich nach meinem Beruf. Darauf will er ein Selfi mit sich und mir vor dem Womo machen. Ich verspreche ihm, sein Foto wird noch am selben Abend rund um die Welt zu sehen sein. Alles zusammen einfach: Soou schöön!
Gerda wünscht sich zum Abschied ein Risotto à la Lorenzo in Craigs Haus. Kristin, Nick und Eloise kommen auch dazu. Erstaunlich, wie diese Junge Familie die Zeit nach der Operation meistert. Sooou schööön!
Am Donnerstag, 7. Mai verlasse ich Reno. Es schneit! Glatteiswarnung. O weh! Ich werde von 13hundert noch auf 17hundert rauf müssen. Nördlich von Reno klart der Himmel auf. Statt wie erwartet irgendwo im Schnee stecken zu bleiben, fahre ich tausendundeinen Kilometer bis Portland. Auf den Gebirgshügeln flaumt in zartem Grün der Frühling. Ganz zärtlich verklärt er die braunen Hänge. Nach hunderten von Kilometern auf Hochtälern fällt die Strasse ab bis fast auf Meereshöhe. Hier blüht der Ginster, die Rhododendren, der Weissdorn und das Gras steht schon üppig hoch. Diese naturschöne Strecke könnte ich genussvoll in drei Wochen durchfahren. Aber es eilt.
Am Freitag, 8. Mai fahre ich den Rest von Portland zur Grenze bei Blane und weiter zum Capilano River RV Park in West Vancouver. Weitere fünfhundertsieben Kilometer. Die bange Frage, ob sie mich nochmals in Kanada reinlassen, ohne dass ich den Kontinent zwischenzeitlich einmal verlassen habe, ist jetzt geklärt. Du erinnerst dich? Bei der Ausreise im November 2014 hat ein amerikanischer Grenzbeamter behauptet, es gebe für mich keine Rückkehr nach Kanada. No way, hat er gesagt! Diese Behauptung liess mich dann und wann nachts aufschrecken.
Dramatisierend verhält sich die kanadische Grenzdame dennoch. Sie will wissen, wann und wo ich das Land wieder verlasse und was mit dem Womo geschieht? Glücklicherweise habe ich in Reno noch schnell den Rücktransport des Womos bei Seabridge und meinen Rückflug bei Iceland Air gebucht und Bestätigungen erhalten. Als ich in meinem Handy nach den genauen Daten suche, nimmt die Grenzerin mir das Handy aus der Hand und blättert in meinem Terminkalender herum. Frechheit, aber schweigen hilft mehr. Sie will wissen, wer die Dame Béatrice ist, die ich im September unter Montréal eingetragen habe. Wenn das mein Bischof wissen wollte, hätte ich ein gewisses Verständnis dafür. Aber was geht das diese begrenzte Dame hier an? Sie heisst mich hinsetzen und geht mit meinen Schlüsseln das Womo untersuchen. Eine Viertelstunde später kommt sie zurück. Im Tonfall, wie sie meinen Namen aufruft, liegt keine Kampfbereitschaft drin. Alles ok, sagt sie. Ich erkundige mich nach den Unkosten. Ihre eingeübt strenge Beamtenmine lockert sich. Sie muss sogar lächeln als ich erstaunt (psst: ironisch) frage: „Was, diese ganze Arbeit kostet mich nichts?“. Ich solle bitte aussen alle Türen und Deckel kontrollieren, ob sie auch alle wieder richtig zugeschlossen sind. Nett, dieser Hinweis. Daher weiss ich, dass sie ihre Nase überall reingesteckt hat. Nein, in eine Kiste nicht, sonst hätte sie jetzt die Nase voll Bärenspray. Sie hätte mir als Schnüffeltrophäen auch die steinerne Bierflasche, die Kirschwasserflasche und das Champagnerfläschchen unter die Nase halten können. Oder die zwölf Eier aus dem Kühlschrank vor meinen Augen zerquetschen. Das hat sie alles nicht getan. Nicht entdeckt? Vor dem Wegfahren bemerke ich, dass sie in einem Fach meine Dokumente zum Rückflug und zur Rückverschiffung durchstöbert hat. Darum ihre Zufriedenheit, mich eines bestimmten Tages wieder ausser Landes zu wissen. Warum bin ich bloss nicht länger als sechs Monate am Stück willkommen? Glauben die wirklich, ich hätte was zu verstecken?
Geschafft. Am ersten Abend verabrede ich mich am Hafen von Vancouver mit Elisabeth und Kerry, meinem technischen Ratgeber und Übersetzer aus der Schweiz. Sie sind eben eingetroffen und geniessen zusammen mit Freunden und mir ein Glas Wein. Neben uns der Bug des riesigen Kreuzfahrtschiffes „Grande Princess“, das sie am Samstag für eine Fahrt von Vancouver nach Alaska besteigen werden. Zum Abschluss des Tages lassen wir unsere Blicke vom Lookout Tower über die Lichter der Stadt und den Hafen schweifen. Ich hab`s geschafft, wiederum in Kanada anzukommen. Sooou schööön!
Rückblickend auf die USA. Ich habe viel gesehen, bin weit herumgereist. Zwanzigtausend Kilometer sind es in diesem halben Jahr. Ich bin begeistert von den Naturschönheiten der Parks. Trotzdem habe ich von vielen Gegenden der USA noch keine Ahnung. Bin den grossen Schneestürmen im Nordosten und den Tornados in der Landesmitte entkommen. Ich habe viele nette, gastfreundliche und hilfsbereite Menschen kennen gelernt. Ein grosser Gewinn. Mit einigen Leuten, die Tragisches durchmachen und mir ihre Geschichten erzählten, bin ich auf besondere Weise verbunden, sowie mit allen, die mir einen Platz an ihrem Tisch angeboten haben. Bin mit dem Womo oft hängen geblieben und doch weiter gekommen. Durch meine Begegnungen und Gespräche, Berichte und Fotos darf ich vielen Menschen Freude bereiten. Dazu hat Gott mich pensioniert und berufen. Was will ich noch mehr? Mein Leben ist einfach: Sooou schööön!
11. Mai 2015. Theres und Hans haben einen ruhigen Flug hinter sich. Sind begeistert über die Flugansicht auf Grönland und die kanadischen Seenlandschaften und schliesslich auch von Vancouver.
Die Fähre von Horseshoe Bay nach Nanaimo auf Vancouver Island und zurück fährt alle zweieinhalb Stunden. Im Mai ist es möglich, ohne Reservation überzusetzen.
An den Sandstränden in Tofino am Pazifik verbringt die Surfer-Generation die Nacht an Lagerfeuern vor ihren Zelten und wartet auf die grossen Wellen am Morgen.
Von Horseshoe Bay bis zu den Shannon-Fällen sind es nur noch fünfzig Kilometer. Vis à vis liegt bequem der Squamish Campground. Weil am Montag der Victoria Day als Feiertag an das Wochenende angehängt wird, bekommen wir wieder einmal den letzten Platz und den nur, weil der reservierende Gast nicht ankommt.
Als ich im Dunkeln auf dem Campground den Abfallcontainer suche, und mich offenbar dem für Frauen reservierten Teil des Waschraums nähere, schiesst ein siebzigjähriger Hengst aus dem Gebüsch und wiehert mich an: „Da drin ist meine Frau beim Duschen. Verschwinde gefälligst.“ Das tue ich freiwillig. Angesichts seiner unappetitlichen Visage verzichte ich gern auf einen Blick auf seine Frau.
Bei meiner weiteren Suche - nach einem Abfallcontainer , nicht nach einer Frau - steht eine junge Chinesin im Stockdunkeln auf dem Platz. Verängstigt. Sie beobachtet mein Gesicht im Schein meiner Stirnlampe. Sie erblickt eine scheinbar vertrauenswürdige Visage. Sie hat zuvor den Waschraum aufgesucht. Nun ist schwarze Nacht hereingebrochen und sie findet nicht mehr zurück zu ihrem Zelt. Ich beschaffe mir einen Lageplan und begleite sie auf ihrem Weg zu ihren Freunden. Das ist die Umkehr der Frauen-Geschichte.
Klares Wasser stürzt sich am Brandywine Fall schäumend in die Tiefe.
Wo im Winter die Skipisten am Whistler zubereitet werden, sausen ab Mai zwei Bike-Generationen Downhill herunter. Es sind die waghalsigen Jungen und die mittelalterlichen Pioniere. Die Ski- und Snowbord Vermieter haben auf Bikes umgerüstet.
Auf dem Hwy 99 von Pemberton nach Lillouet sichten wir einen Schwarzbären beim Morgenspaziergang auf einer Seezunge. Bärenstarkes Erlebnis. Sooou schööön!
In Lillouet stossen wir zum Fraser River. Schon Mitte Mai ist es in diesem heissesten Abschnitt bis Lytton einunddreissig Grad warm.
Von Clinton nach Prince George, erhaschen wir auf dem Hwy 97 einen Blick auf zwei Elchkühe (Mousse). Zwei Hirschkühe prüfen meine Reaktion und das Bremssystem meines Womos. Beides passt. Nochmals gut gegangen.
Farmer säumen den Hwy 16 von Prince George bis Terrace. Auf den letzten hundertfünfzig Kilometern überschwemmt der gewaltige Keena-Fluss alles Flachland bis nach Prince Rupert am Pazific mit braunem Erd- und Schmelzwasser. Die Eisenbahn und die Autostrasse verlaufen dicht nebeneinander oft auf der Höhe des Wasserspiegels über dem schmalen Westufer des Flusses.
Zwanzig Kilometer tief ins Landesinnere kommt uns der Nebel auf dem Meeresarm entgegen. Prince Rupert zählt im Schnitt zweihundertzweiundzwanzig Regentage. Der Himmel ist jetzt aber nur bewölkt.
Kohle und Holz werden von Prinz Rupert nach USA und China verschifft. Fertigwaren aus USA und China werden auf endlosen doppelstöckigen Container- Zügen ins Landesinnere von Kanada verfrachtet.
Am Bahngeleise entlang begnügt sich ein Schwarzbär mit Grünzeug. Der Beginn des Highway 37 wirkt eintönig. Die Strasse ist eingesäumt von Laub- und Nadelbäumen. Dann öffnet sich das Tal noch weit vor Meziadin. Schneeberge beleben unsere Blicke. Kribbelig wird es mir jedes Mal, wo kuschelige Bären am Strassenrand hocken.
Ich drehe den Zündschlüssel zur Weiterfahrt. Keine Lichter auf dem Display. Der Motor springt nicht an. Dieses Kribbeln passiert zwei Mal! Schliesslich stellen wir das Womo auf einem Kiesplatz ab und verbringen abwartend die Nacht.
Mit Herumzappen an der Batterie springt der Motor wieder an. In Watson Lake im Bundesstaat Yukon verbringen wir die Nacht auf dem Campground und harren der Dinge, die da kommen wollen. Wieder startet der Motor erst nach Herumzappen an den Batteriekabeln. Ich erinnere an dieselbe Panne in Schottland. Bange Fragen: Wohin lassen wir uns Ersatzteile schicken? Was tun wir in der Zwischenzeit? Eine behelfsmässige Garage aufsuchen! McBernie zieht die Spannbriede am ersten Batterie-Pool an und die Schraubenmutter am zweiten. Der Motor startet wie früher. Mit viel Erleichterung in der Bauchgegend ziehen wir weiter südwärts. Unser Zeitfenster erlaubt uns nicht, weiter nordwärts zu fahren.
Nachtrag: Zwischen Good Hope Lake und Watson Lake auf dem Hwy 37 hat der Borkenkäfer hunderte von Quadratkilometern Fichtenwald zerstört. Die Fichten stehen entkleidet und ohne Rinde da. Schwarze Totempfähle, viele am Boden zerstört. Ein trauriger Anblick!
Wir befinden uns vergleichsweise auf dem Breitengrad von Mittelengland. Die Nächte bleiben bis auf wenige Stunden taghell.
Bären all überall am Highway 97. Sie lieben den Löwenzahn! ...und Bisons! Sie weiden an der Autostrasse entlang, ohne ihren schweren Kopf anzuheben. Die Jungtiere legen sich alle paar Meter hin, bis sie von ihren Eltern wieder angeschoben werden, weiter zu ziehen.
Vom Muncho Lake südwärts hängen Bären am Strassenrand. Ein Wolf zerrt an seiner Beute. Nebenan hält sich ein Rabe bereit für die Überreste. Ein Karibu grast nach einem kurzen Vertrauenstestblick auf unser Womo ruhig weiter. Sooou schööön!
In Pink Mountain gelingt es uns an der dritten Zapfsäule Diesel zu füllen. Für den angebotenen Campingplatz bräuchten wir Winterstiefel. Er ist im Umbau, tief im Dreck! Geld zurück und weiter! In Wonowon können wir bei einer Tankstelle nach fünfhundertsechsundfünfzig Kilometern schliesslich stehen bleiben. Unser Plan war zirka zwei bis dreihundert Kilometer gemütlich zu fahren!
Die Tierbegegnungen, die Spinatravioli mit feinster Knoblauchsauce von Theres, der feine Cabernet-Sauvignon-Merlot und das Mars mit österreichischem Kirsch (der nicht riecht wie kanadischer Sprit) zum Dessert, machen die Verlängerungen der Fahrt und Ungewissheiten wegen der geschlossenen Dieseltankstellen vergessen. Sooou schööön!
Hundertdreissig Kilometer fahren wir von Dawson Creek abseits bergauf und -ab auf Hwy 52 nach Tumbler Ridge, um den riesigen Kinuseo Wasserfall zu bestaunen. Der hat sich aber nochmals sechzig Kilometer ins Hinterland verzogen. Das ist uns nicht zu weit, um diesen prächtigen Fall zu sehen. Aber oje! Sechzig Kilometer Schotterpiste sind doch zu viel. Wir kehren um! Auch so einen Reinfall stecken wir weg.
Nach dem tierleeren Hwy 40 biegen wir bei Hinton auf den Hwy 16 nach Jasper ein. Schon kurz nach der Einfahrt in den Jasper Nationalpark überraschen uns wilde Ziegen, Gämsen, ein Fuchs.
Der Schnee zieht sich Ende Mai auch in den hohen Rocky Mountains zurück. Schmelzwasser füllt die Weiten des Athabasca River und Touristen füllen das schmucke Städtchen Jasper.
2015 Juni
Theres und Hans sind bisher viertausendachthundert Kilometer mit mir gefahren. Vancouver-Vancouver Island-Whistler-Prince George-Prince Rupert-Watson Lake-Grande Prairie-Hinton-Jasper. Sie begleiten mich weiter.
Am Eingang von Jasper zum Maligne Valley streifen zwei Wölfe durchs Gebüsch. Das fängt ja wieder gut an.
Glacier Highway. Als die Böschung dem prallvollen Athabasca River entlang immer schmaler wird, entschliesst sich ein Schwarzbär den breiten Fluss zu durchschwimmen. Nach einigen Metern kehrt er aus dem eiskalten Fluss zurück. Ein zweiter Versuch. Bis zur Flussmitte hin wird er hundert Meter abgetrieben. Die Strömung bringt ihn wieder an unser Ufer. Dicht hinter meinem Womo überquert er die Strasse. Man sollte nie über eine Strasse springen, nur vorsichtig gehen. Dies muss der platschnasse, frierende, ermüdete Bär erfahren. Ein Truck kann nicht mehr rechtzeitig bremsen und gibt ihm einen derben Schups. Der Bär verliert ein paar Haarbüschel, klettert aber die steile Böschung hinauf. Der Autofahrer steigt sofort aus, um den Schaden an seinem Truck zu begutachten. Er guckt nicht nach dem Bären und seiner Verletzung. Es wäre für den Bären ein Leichtes, umzukehren und dem unvorsichtigen Driver eine Ohrfeige zu verpassen. Aber Schwarzbären sind halt sehr ruhige, gutmütige Tiere. Das arme Tier beschäftigt uns noch lange. Theres würde am liebsten umkehren und des Bären Prellung pflegen.
Ein Breithornschaf bedränge ich mit dem Womo an der Leitplanke. Der Bock beginnt mit den Vorderhufen zu scharren. Vorsicht Womo, wenn der seine massiven Hörner einsetzt!
Auf dem Sunwapta Pass ist mit zweitausend und fünfunddreissig Metern der höchste Punkt auf dem Glacier Highway erreicht. Strahlend präsentieren sich die Dreieinhalbtausender mit ihren Gletscherabbrüchen in der Abend- und Morgensonne.
Bighornschafe scharren mit den Hufen auf einer Kiesstrasse und lecken Mineralien aus dem Staub. Wahrscheinlich hat das Bighornschaf am Vortag neben meinem Womo auch nur nach Mineralien gesucht und nicht mein Womo bedroht.
Du willst alle Pannen mit meinem Womo kennen? Die Fensterscheibe an der Fahrertüre lässt sich ausgerechnet bei der Auto-Waschanlage nicht mehr schliessen. Theres drückt einen Seesack in die Öffnung, während Hans und ich das Womo waschen. Die Elektro-Sicherung für das Fenster haut es nach kurzem Betätigen immer wieder raus! Ferner: Wie schon ganz im Norden bei Watson Lake streikt wiederum der Batteriekontakt. Hans rüttelt jeweils am Pluspol, während ich versuche, den Motor zu zünden. Das sieht etwa so unbeholfen aus, wie wenn man im vorigen Jahrhundert Motoren mit einer Kurbel hat anwerfen müssen. In Lake Louise finden wir einen Auto-Mechaniker. Dem fällt aber auch nur ein, die Schraubenmutter an der Klemme anzuziehen. Das wird ja wohl wieder für tausend Kilometer reichen. Keine Bange. Ich weiss ja, woran es liegt, wenn sich auf meinem Armaturenbrett schwarze Nacht ausbreitet.
Hans ist beeindruckt zu lesen, dass der Campground in Lake Louise mit einem Zaun und Elektrodraht gegen das Eindringen wilder Tiere gesichert ist. Wir sitzen im Freien und nehmen diese beruhigende Botschaft gerne zur Kenntnis. Minuten später entdeckt Theres, wie ein Wolf fünfzehn Meter neben uns des Weges zieht als wäre er auf diesem Campground zu Hause. Als er mich mit dem Fotoapparat daher hasten sieht, verkriecht er sich im Dickicht. Ich stelle ihm nach. Erfolglos. Wer hat denn Angst vor Wölfen?
Auf der Nebenstrasse zwischen Lake Louise und Banff latscht unser xter und vermutlich letzter Schwarzbär über die Strasse. Wir setzen nämlich zurück Richtung Vancouver. Kelowna, am Beginn des Okanagan Valley, liegt ganz hübsch am Wasser, dem hundert Kilometer langgezogenen Okanagan Lake.
Bei Kelowna West müssen wir zum zweiten Mal Kühlflüssigkeit nachfüllen. Diesmal stellen wir sofort einen lecken Schlauch fest. Eine Halterung hat sich gelöst und den Schlauch auf einem heissen Motorteil durchscheuern lassen. Was jetzt? Ich frage bei einer Autowaschanlage einen Kunden, ob er eine Garage kennt. „Nein,“ sagt er, „aber warte zwei Minuten. Ich komme gleich selber nachschauen!“ Bevor wir intervenieren können, löst er schon den Schlauch, packt Hans und mich in seinen Truck – Theres bewacht das Womo - und führt uns über die Hauptstrasse zum Canadian Tire. Schlauch kaufen, Kühlmittel kaufen, zurückfahren und einbauen! Eine gute Stunde dauert der ganze Prozess. Auf welchem Planeten bewegen wir uns denn? „Ich bin Wally Peterson, ein einfacher Farmer von Alberta“, sagt er. „Ich bin auf der Rückreise von der Beerdigung von meiner Freundin Grossmutter.“ Diese selbstverständliche Hilfsbereitschaft ist umwerfend! Ich habe wieder eine gute Fügung erlebt. Wenn schon was kaputt, dann zur rechten Zeit, am rechten Ort, mit dem hilfsbereitesten Menschen. Soooou schööön!
Dreissig Kilometer weiter wieder „Kühlflüssigkeitsstand ungenügend“. Was ist jetzt wieder? Peinlich, ich habe wohl vor lauter Freude über die Hilfsbereitschaft aus Alberta vergessen, den Kühlflüssigkeitstankdeckel festzuschrauben! Nochmals nachfüllen und gut verschliessen! Der Schreck so schnell vorbei wie er gekommen ist!
Im Okanagan Valley gibt es vor allem südlich von Oliver bis Osoyoos (Hwy 97)Wein- und Früchteanbau. Die frischen Knallkirschen und Nektarinen sind wunderbar aromatisch.
Osoyoos liegt dicht an der kanadisch – amerikanischen Grenze am wärmsten See von Kanada, dem Osoyoos Lake, der bis in die USA hineinreicht. Siebenunddreissig Grad die Luft am 6. Juni.
In den schmalen Seitentälern am Hwy 3 nach Hope sind wir überrascht von den unzähligen naturschönen Campgrounds am Weg und über die Fruchtverkaufsstände und Weingüter in grosser Zahl bis Keremeos.
Theres und Hans freuen sich mit mir über sechstausendvierhundertzweiundzwanzig erlebnisreiche Kilometer. Auch in ihrem Zeitgefühl hat sich dieser Monat ausgeweitet. Immer neue Gegenden haben sich aufgetan und die Bären, Wölfe, Bisons, Elche, Hirsche, Füchse bleiben in unseren inneren Bildern präsent. Sooou schööön!
Am 11. Juni kommen Theres und Hans nach dem Edelweiss-Direktflug Vancouver-Zürich wohlbehalten in Rotkreuz an.
Ich verbleibe vorerst in Vancouver, um die nötigsten Reparaturen vornehmen zu lassen. Kabeldefekt am Seitenfenster finden, Kontaktklemme zur Auto-Batterie dauerhaft fixieren. Das Seitenfenster hat den Zahnarzteffekt. Dreissig Mal öffne und schliesse ich das Fenster auf der Hinfahrt zur Garage. Es funktioniert tadellos. Also Hände weg bis zur nächsten Panne. Den Batteriekontakt zu fixieren gelingt beim Lastwagenmechaniker Alex in Burnaby. Alex war mir schon im November 2014 behilflich. Auch dieses Mal entlocke ich Alex eine Menge privater Geschichten. Er lässt seine Arbeit liegen und erzählt mir sehr offen und freimütig aus seinem Lebenslauf und familiären Verhältnissen. Sein Zutrauen zu einem Dahergelaufenen wie mir ehrt mich.
Drei Tage lang sitze ich auf dem Capilano River RV Park in Vancouver fest. Nein, keine Panne. Ein aufkommender Hunger nach geistigen Perspektiven überwältigt mich. Täglich höre ich mehrere Stunden lang mittels Podcast bisherige Sonntagmorgen-Sendungen des Schweizer Radios SRF2 Kultur in „Perspektiven“. Und das, obwohl der Himmel über British Columbia Tag für Tag wolkenlos blau verlockend erscheint. Vielleicht hat dieser Marschhalt auch damit zu tun, dass ich bereits ein ganzes Jahr in Kanada, USA und wiederum in Kanada über fünfzigtausend Kilometer sehend unterwegs bin. Mein Geist ist bereit, intensiv zu hören. Das Reisen ist mir aber nicht verleidet. Ich geniesse nur mal zehn Tage Ferien in Vancouver.
Der Chor-Gottesdienst in der Kathedrale von Vancouver ist sehr herkömmlich mässig gestaltet. Im Pfarreiheim präsentieren sich die Pfarreigruppen mit Plakatwänden. Auch da fehlt der Hang zur Erneuerung. Schade. Das Publikum in meinem Alter fühlt sich wohl und wundert sich, warum nicht mehr junge Leute an diesem Senioren-Leben Gefallen finden.
Karl, dem 83-jährigen Campnachbarn, offeriere ich ein Käsefondue mit einer Flasche Weisswein, die uns bis Mitternacht beschäftigt.
Deutsche Camper, die wieder nach Hause fliegen, überlassen mir jede Menge Holz, Pfannen, Gewürze, Wasser. Auch Bärenspray und WC-Papier. Letzteres ergänzt sich prima. Entweder ich wage den Bärenspray zu benutzen, oder ich habe die Hose voll.
Mike kommt morgens früh vom Fischen auf das Camp zurück. Er schenkt mir zwei grosse Bachforellen.
Die Schweizer Fluggesellschaft Edelweiss hat mir Theres und Hans geraubt. Sie bringt mir aber zehn Tage später Silvia direkt von Zürich nach Vancouver.
Die Spazierwege rund um den Stanley-Park und Downtown und die Skyline gefallen Silvia sehr. Dutzende wunderhübsche, wunderhübsch gekleidete Ladies präsentieren sich am Wasser vor der Skyline von Vancouver. Sie sind gestylt für den Uni-Ball.
Meinrad Leuch lässt mir vier wunderbare CD von Messen und Konzerten im Rahmen vom Schweizer Grossevent Cantars zukommen. Er hat sie in bester Ton-Qualität selbst aufgenommen und gebrannt. Meinrad schenkt mir damit viel innere Verbindung zu meinen früheren Pfarreien und Musikern in St. Fiden, Rotmonten und Neudorf. Sooou schöön!
Am Montag, 22. Juni beginne ich mit Silvia den nächsten Fahrtenzyklus. Die Fähre von Horseshoe Bay bringt uns nach Nanaimo auf Vancouver Island. Wir fahren die Westküste hoch. In Campbell reklamiert der Motor: „Kühlflüssigkeit ungenügend“. Ich weiss wo gucken! Eine Geisterhand hat mir den Deckel vom Druckbehälter abgeschraubt. Erinnerst du dich? Das letzte Mal habe ich die Schuld auf mich genommen. Nun aber stellt sich heraus, der Deckel öffnet sich von selbst. Das ist zwar saublöd, aber entlastet mich vom Ruf der Nachlässigkeit.
Telegraph Cove liegt in einer überschaubar engen Meeresbucht. Rund um die Pfahlbauten gibt es nur einen Weg. Früher oder später begegnet man allen Einwohnern und Tagestouristen. Alice hört mein Schweizerdeutsch. Nach kurzen Rückfragen stellt sich heraus, dass ich in meiner Jugend bei ihr, Helbling AG in Buchs SG, meine Kleider eingekauft habe und… Bruno, ihr Mann, ist der Bruder von Ernst, dem Ehemann meiner Cousine Ruth, ehemals Guntli von Buchs. Alice ist die Schwester von Guido Helbling, dem ehemaligen Musiker am Gymnasium Friedberg in Gossau. Woher kennst du denn meinen Bruder Guido, rätselt Alice. Ich war fünf Jahre lang Kaplan in Gossau. Was, du bist Pfarrer? Auf diesem Camp treffen wir noch mehrere Schweizerinnen und Schweizer an.
Ein Boot zieht eine weiche Spur auf dem Meeresarm. Delfine buckeln im Wasser. Orkas tauchen auf und ab. Seelöwen liegen träge auf einem kleinen Inselfelsen. Andere tummeln im Wasser.
Während fünfzehn Stunden Fährschiff von Port Hardy nach Prince Rupert gibt es reinen Nadelwald zu beiden Seiten der hügeligen, relativ engen Inland Passagen. Die Flut schneidet auf allen fünfhundert Kilometern eine exakte horizontale Fuge ins felsige Ufer unter den Nadelbäumen, die von allen Höhen bis dicht ans Ufer herunter reichen.
Schwarzbären zu sichten bleibt auf dem Pfad nach Norden ein Glücksfall. So einer überfällt uns auf vor Meziadin, so ein Glücksfall. Kurz vor unserem Camp in Bell 2 soll ein Schwarzbär hinter unserem Womo die Strasse überquert haben. Kurz vor dem Dieselstopp im Tatogga Lake Resort tappst der Nächste vor unser Womo. Umso aufmerksamer verbringen wir eine Nacht an einem einsamen Bergsee vor dem Dease Lake. Sooou schööön!
2015 JULI
Vor Watson Lake treffen wir vom Highway 37 herkommend auf den Alaska Highway 1. „Wir“? Silvia ist noch eifrig fotografierend mit dabei. Ein buntes Fotobuch entsteht.
In Whitehorse erleben wir den Canada Day, 1. Juli. Siebenunddreissig tausend Einwohner gibt es hier und in der weiteren Umgebung. Viele davon machen an einer handgestrickten Parade mit oder stehen am Strassenrand wie wir.
Silvia ist Eisenbahnerin. Wir buchen den Zubringerbus von Whitehorse, Yukon Territory nach Fraser, British Columbia und die historische, wilde, wackelige Bahnstrecke von Fraser BC bis Skagway, Alaska, USA. Zurück bringt uns der Bus von Skagway bis Whitehorse. Zehn Stunden dauert dieser Spass durch Regen und Nebel!
Ich bin also wieder in die USA reingekommen! Mangels genauer Information hat sich aber die Sache mit dem Zoll auf eineinhalb Stunden ausgedehnt (bei einer Gesamtaufenthaltsdauer von zwei Stunden in Skagway). Ich bin für die Zollbeamten ein komplizierter Fall. Sie stehen zu viert hinter einem Computerbildschirm und beraten sich. Selbst der Chef erniedrigt sich, mit mir zu sprechen und das ganz höflich und hilfsbereit. Schliesslich heften sie mir - gegen alle bisherigen Auskünfte - bereits wieder eine Aufenthaltserlaubnis für drei Monate –Irrtum entdeckt der Chef – für ein halbes Jahr USA in meinen Pass. Ich habe nur eine Tageskarte erwartet, schlimmstenfalls als „persona non grata“den Schuh in den Hintern, aber nein, ich bin im nächsten halben Jahr jederzeit in USA willkommen, darf ein und ausreisen, grad wie ich will. Das ist das überraschende, angenehme Endergebnis nach fetten, zeitraubenden Klärungen!
Ein neuer Horizont tut sich auf von Whitehorse los Richtung Alaska! In Haines Junction erhalten wir im Besucherzentrum den Tipp, im Dorfkaffee an einem Lachsbuffet mit Country-Musik teilzunehmen. Da begegnen wir einem Schweizer Ehepaar, Beat und Irene, das schon seit zwanzig Jahren hier wohnt, ein zweites Ehepaar, Armin und Verena, seit fünf Jahren. Sie nehmen uns gern in ihre gesellige Runde auf.
Fünfundsechzig Kilometer auf dem Alaska Highway bis Beaver Creek vor der US Grenze sind katastrophal löcherig. Dem Womo haut es die Seitenfenstersicherung raus!
Die Alaska- Zöllner finden am Independence Day dem 4. Juli keine Schuld an mir. Sie winken mich nach einer kurzen Kühlschrankinspektion durch. Das erneute Halbjahresvisum von Skagway hält der Prüfung durch die Alaska-Zöllner stand. Kaum zu glauben: Ich bin in Alaska!
Die Nächte bleiben fast taghell!
Im freien Feld wachsen nur noch kleine, schlanke Tundra-Fichten. Immer höhere Gebirgsmassive begrenzen die Wälder in südlicher Richtung. Schliesslich imponieren die gewaltigen Schnee- und Gletscherberge in den Chugach Mountains mit dem Mount Markus Baker. Kilometer lange Gletscherzungen fliessen aus den Tälern heraus wie zum Beispiel der Matanuska-Gletscher. Sooou schööön!
Das alles von Tok auf dem Alaska Highway 1, bzw ab Glennallen bis Palmer auf dem Glenn Highway nach Südwesten bis nach Anchorage: der meinem Empfinden nach hübschen Hauptstadt von Alaska.
In Anchorage suche ich zwei Stunden lang Motoröl für mein RV und werde Dank auskunftsbereiten Menschen fündig. Zusammen mit einer Internetübung ist der ganze Vormittag schon hin. Ist das so schlimm? Eigentlich nicht, aber macht mir doch den Traum von einem Gebirgsflug kaputt. Denn…
Es lockt der Mount McKinley, auch Denali genannt. Mit 6193,50 Metern ist er der höchste Berg von ganz Nordamerika. Auf der Fahrt von Anchorage nach Fairbanks zeigt er sich erst wolkenfrei, dann verhüllt er sein Gesicht. Bald bleibt der McKinley weit hinter uns zurück. Vor uns weitet sich eine Tundra-ähnliche Ebene auf sechshundert Höhenmetern, weit weg umrahmt von gleichmässig hohen Bergen. Sooou schööön!!
Wir stoppen nach 584 Kilometern vor Fairbanks, weil da unten viel Rauchsmog von verschiedenen Waldbränden Atemwege und Augen bedrängt. Es soll zur Zeit in Mittel- und Ost Alaska dreihundertfünfzig Waldbrände geben. Meist durch Blitze entfacht.
Ich gucke mal nach, wie hoch im Norden wir uns hier bewegen und staune… Fairbanks, der nördlichste für mein Womo erreichbare Punkt, hängt noch unter dem Polarkreis. Fairbanks liegt vergleichsweise im oberen Drittel von Norwegen. Das Nordkap von Europa liegt noch weit nördlicher. Kein Wunder, plagen wir uns heute, gerade wie unsere Freunde in der Schweiz, in Frankreich und Berlin mit vierunddreissig Grad Celsius ab.
Wir fahren ein paar Schleifen im leichten Rauchsmog von Fairbanks. Diese nördlichste Stadt von Amerika überrascht mich durch ihre Grösse. 33000 Einwohner. Eine Universität und ein Militärstützpunkt beschäftigen hier Amerikaner aus allen Staaten. Kreuzfahrtschiffe, die in Anchorage anlegen, schicken ihre Autobusse hierher.
Dem breiten Tanana River entlang folgen wir stromaufwärts (Alaska Highway) bis in die Gebirgszone. In den Ebenen recken sich kleinste, kurzarmige Fichten, gerade mal gross genug als Kerzen für einen Kindergeburtstagskuchen. So niedlich und trotzen doch dem frostig kalten, langen Winter. Wir schliessen unsere Alaska-Rundfahrt nach tausendfünfhundertneunzehn Kilometern in Tok.
Einen Ausweg aus Alaska finden wir über den Top of World Highway von Tetlin über die amerikanische-kanadische Grenze nach Dawson. Die Fahrt über die Kuppen der Hügel hinweg beginnt erst auf der kanadischen Seite der Grenze. Dutzende Kilometer sind Schotterstrasse, aber doch gut gepflegt. Die Sicht auf die Hügel und hinab in die Täler ist derzeit ziemlich erbärmlich wegen des Waldbrandsmogs.
1896 fanden George Washington Carmack und seine Kollegen Skokum Jim und Dawson Charlie faustgrosse Goldnuggets im Bonanza Creek des Klondike. Monate später setzte der grosse Goldrausch ein. Dawson City war in Mitten des Goldgräbergebietes gegründet. Ein Jahr später waren es schon 3500 und in der Erfolgszeit sechzigtausend Menschen. Jetzt leben gerade noch tausenddreihundert in Dawson City. Die ganzen Stadthäuser stehen unter Denkmalschutz, werden meist bewirtschaftet. Ein lebendiges Andenken an die gute alte Zeit mit Hotels, Saloons, Tanzsälen und Spielhallen. Drei Jahre später war der grosse Spuk schon fast vorbei, als in Nome in Alaska Gold gefunden wurde und die ersten achttausend Goldgräber dorthin weiterzogen.
Die Klondike ist ein stattlicher Raddampfer, der ausserhalb von Whitehorse im Trockenen als Museum zugänglich ist.
Reisevögel sind sympathische Leute. Mit Hanspi und Mägi aus Romanshorn tausche ich schon eine ganze Weile News per e-mail. Sie sind unterwegs von USA herkommend, haben eben in Alaska kehrt gemacht. Sie entdecken mein Womo auf dem Parkplatz eines Einkaufzentrums in Whitehorse. Schöne Bescherung! Drei RV weiter weg steht ein Bulle von einem Fahrzeug mit Schweizerkreuzen garniert. Ihm entsteigen Ruth und Peter aus Safenwil. Sie kommen eben von Mexiko hoch, nachdem sie früher mit dem Ungetüm zwei Jahre lang in Südamerika gereist sind.
In ganz Alaska entdecken wir keinen einzigen Bären und auch kein Moose. Wohl jetzt auf dem Alaskahighway in Richtung Watson Lake. Ein junger, flügger Schwarzbär trottet über die Strasse. Ein paar Kilometer weiter ein zweiter. Zwei Moosekühe (in Nordeuropa Elch genannt) stapfen in Tümpeln und feuchtem Gras umher. Sooou schööön!
Auf einem Parkplatz am Alaska Highway treffen wir ganz tolle Burschen aus Deutschland. Nick, Julian, Sandro und Philipp. Philipp ist vor ein paar Tagen zur Gruppe gestossen. Ich nenne die Jungs beim Namen, denn sie sind ausgesprochen freundliche, wohltuende und in meinen Augen heroische Typen. Deutschland, Nordfrankreich, England, Schottland, Irland, Island haben sie schon hinter sich gelassen. Vor kurzem sind sie von Island nach Anchorage in Alaska geflogen. Jetzt sind sie unterwegs auf der Pan Am und haben sich vorgenommen bis nach Patagonien, dem südlichsten Zipfel von Südamerika zu reisen. Und wie? Das alles mit einem vollbepackten, stählernen Fahrrad mit Vierzehngangübersetzung. Ende 2016 wollen sie das alles geschafft haben und sich auf dem Rückweg an der Copa Cabana in Brasilien etwas ausruhen. Nick fordert mich auf, sein Fahrrad hinten anzuheben. Ich schaffe es knapp einen Zentimeter. Das gesamte Ding wiegt einhundertzwanzig Kilogramm. Ich werde mich dann und wann neugierig in die Webseite (unter www.trioforrio.com) dieser sympathischen Jungs einklicken, um ihren Reisekrimi zu lesen. „Behüt dich!“, sagt Sandro beim Abschied. Ich schicke den Jungs gleich vier von meinen Schutzengeln voran.
Watson Lake – Fort Nelson. Gestern noch war diese Hauptverbindung wegen Waldbränden in der Nähe von Fort Nelson gesperrt. Wir haben Glück. Der Highway 97 ist wieder geöffnet! Also, tanken und los!
Silvia bringt Grüsse aus der Schweiz zu Schildknechts im Muncho-Hotel und RV Park. Dieser Ort auf einer einsamen Strecke am Hwy 97 zieht viele Schweizer an, so zB. Josi, den Ex-Chef von Vita Parcour Schweiz. Er ist per Fahrrad unterwegs von Vancouver nach Alaska. Pech, ein Bremskabel ist gerissen. Ersatz gibt es nach tausend Kilometern in Whitehorse. Aber wie kommt er dorthin?
Und wie kommen wir nach Fort Nelson? Diese Frage drängt sich fünfzig Kilometer vor Fort Nelson auf. „Achtung. Wenig Kraftstoff“. Bei der Tankstelle in Fort Nelson sind wir fünfhundertzehn Kilometer am Stück gefahren. In den Tank passen 85 Liter Diesel. Wir tanken 86,592 Liter!
Im Info Center in Fort St. John haben die Damen nicht gehört, was wir gehört haben: Jasper, der Nationalpark sei wegen Waldbrand geschlossen. Sie recherchieren: Offenbar steht ein Campground in Flammen. Wir werden sehen. Jedenfalls fahren wir bis Dawson Creek südwärts, wo wir uns für den Hwy 97 nach Prince George entscheiden.
In Prince George führt mich Karin, meine GPS Assistentin, zu einem angeblichen Campground. Da befinden sich nur Häuser. Wir entscheiden Richtung Jasper zu fahren und finden auf einem Rest Area am Willow River einen stillen, verborgenen Platz. 1974 haben unweit von hier acht Junge beim Kanufahren in einer Stromschnelle ihr Leben verloren.
Der Mount Robson steht majestätisch vor dem Eingang zum Glacier Hwy 93. In Jasper hörst du zu dieser Juli-Zeit jede Menge Schweizerdeutsch.
Das Maligne Tal ist wegen Waldfeuern gesperrt. Auch der kürzere Weg von Dawson Creek nach Jasper, der Highway 40 ist wegen Waldfeuern und Lastwagendreck schwer zu fahren. Wir haben also gut daran getan, diese Gegend zu umfahren. Jasper liegt rauchfrei unter blauem Himmel und hübschen Wolken. Die Elks (Hirsche) fühlen sich durch die Einheimischen und Touristen vor Bären geschützt wie zu Hause.
Der Athabasca River bringt sehr viel Schmelz- und Regenwasser und fällt tosend über die Athabasca und Sunwapta Falls. Das Nebel- und Wolkenspiel ist grandios. Die Rockys zeigen sich mal bedeckt, mal offen im Sonnenschein. Nachts regnet es auf dem zweitausend Meter hoch gelegenen Sunwapta Pass, dem Höhepunkt des Glacier Highways. Die Temperatur fällt auf 5 Grad Celsius. In dieser Gegend leben 110 Grizzlis, 70 Schwarzbären, 60 Wölfe, 125 Wald-Caribous, 500 Hirsche und 180 Elche. Ich bin begeistert. Doch keines dieser Tiere bekomme ich zu Gesicht. Ich bin trotzdem begeistert.
Die Nebel lichten sich. Über der Waldgrenze tragen die stolzen Rockys Neuschneemützen. Zum ersten Mal kann ich das Gebirge hinter dem Lake Louise unverdeckt sehen!
Zum ersten Mal werde ich auf einem Campground abgewiesen und nehme auf dem Abstellplatz (Overflow) vorlieb.
Der folgende Morgen lacht über die Pessimisten so strahlend blau und klar, dass ich früh zum Bett raus muss. Nichts verpassen! Auf der Autobahn spazieren gehen wie ein irrer Bettflüchtiger. Hoch zum Lake Louise. Erneut Fotos wie noch nie!
Eigentlich bin ich immer noch auf Bärenjagd. Daraus wird nichts. Auf dem Hwy 1A Richtung Banff verschwindet immerhin eine Elkkuh von der Strasse und fünfzig Meter weiter präsentiert ein stattlicher Bulle sein Geweih.
Auf die nächste Entdeckung bin ich stolz. Diesen Stolz verrate ich nur dir. Im hohen Gebüsch entdecke ich in voller Fahrt (50km/h) ein Geweih. Anhalten, rückwärtsfahren. Mehrere Geweihe verraten eine Gruppe von Elk-Stieren. Es sind acht Bullen, die sich beim Abmarsch nicht mehr verstecken können. Klick, klick, klick als Tageserfolg.
Der Waldbrand am Hwy 1A liegt zweiundzwanzig Jahre zurück (1983). Die verkohlten Stämme riechen noch nach Brand. Kleine Tannen wagen sich zu recken. Kriegen aber von unten her braune Nadeln. Die jungen Wipfel sind grün. Den roten Kanada-Blumen macht dieser versengte Waldboden nichts aus. Sie freuen sich Jahr für Jahr über diese abgeholzten Felder. Zwischen den teils herumliegenden teils aufgerichteten Kohlebäumen errichten sie ein farbenprächtiges Sommercamp.
In Banff, dem Tourismusort in den Rockys, herrscht grosser Ferienverkehr. Da gibt es eine Menge gediegene Ateliers und Boutiquen. In den Strassen-Restaurants lassen es sich die Leute schmecken. Der achthundert Wohnmobilen Platz bietende Campground ist überfüllt. Immerhin darf ich hier gratis das Gebrauchtwasser entsorgen und Frisches tanken. Ich fahre mit Silvia zurück zum Overflow-Platz in Lake Louise.
Meine Master Card taugt nicht einmal mehr für einen Lebensmitteleinkauf im Wert von zwanzig Dollar. Ungültig! Notrufnummer anrufen. „Ja, ihre Karte ist aus Sicherheitsgründen gesperrt. Jemand hat in den USA dreimal versucht Waren mit ihren Daten zu bezahlen. Lebensmittel im Wert von zweihundert Dollar, ein weiteres Mal für einhundertzwanzig Dollar und bei McDonald für 3.35. Ihre Daten wurden kopiert und weiterverkauft“, gibt VISECA zu Auskunft. Das Abwehrsystem von VISECA verbucht einen vollen Erfolg. Es ist kein finanzieller Schaden entstanden. Silvia ist mir mit ihrer Master Card die grosse Rettung, bis eine neue Karte in einer Woche in Vancouver eintreffen wird. Das Problem meiner Beweglichkeit ist es, über keine ständige Adresse an einem Ferienort zu verfügen… Ein Tag später. Das Problem löst sich teils. Meine EC Karte habe ich bisher nie benutzt und darum als unfähig gehalten. Falsch! Mit ihr kann ich jedem Geldautomaten (ATM genannt) Bargeld entlocken. Ich bin wieder Jemand.
Was habe ich aus der Master Card Affaire gelernt? Ich werde, wo das verlangt wird, jeweils meine ungültige Karte an der Kasse deponieren und nach dem Tanken cash oder mit der gültigen Karte bezahlen. So werden sich die Halunken beim Kopieren meiner Karte selber schaden.
Der Mount Victoria (3464m) und seine umliegenden Gesellen zeigen sich wieder in voller Pracht. Soou schöön!
Und Abschied. Wir verlassen die Rockys über den Kicking Horse und den Rogers Pass. In Revelstoke suchen wir eine Bleibe und landen an einem schattigen Waldrand. Das tut gut, denn das Thermometer schnackt tagsüber auf einunddreissig Grad. Silvia gewöhnt sich an das wilde Campen. Wenn nur etwas Kühlung kommt. Ein kleiner Handventilator, den wir uns für einen Dollar fünfzig kaufen, zeigt wohltuende Wirkung. Die Nächte werden eh angenehm kühl.
In einem Reiseführer habe ich gelesen, es gebe in Kanada zur jeder Jahreszeit ekelhafte Mückenschwärme. Es drängt mich zu erzählen, dass ich nach mehr als einem Jahr Reisen in Kanada und USA nur wenige Male an Tümpeln wirklich froh war um die Mückengitter am Womo. Natürlich gibt es vereinzelt solche kleinen Viecher. Und nachts ist auch eine Mücke eine zu viel. Aber von Mückenschwärmen weiss ich nichts. In der Nähe von Dörfern und Städten werden die Mücken in Feuchtgebieten erfolgreich bekämpft.
Im Okanagan Valley laden Früchtestände zum Kauf frischer Früchte ein. Die Früchte sind zweieinhalb Wochen frühreif. Manchenorts sind die Pflücker, oft Inder, noch nicht zur Stelle. Kirschen hängen nicht einzeln, sondern in grossen Trauben beieinander. Mirabellen, Pfirsiche, Zwetschgen, Blaubeeren.
Beim Verlassen des Island View RV Resorts in Osoyoos entdeckt ein Camper einen Plattfuss an meinem Innenrad hinten links! Sehr aufmerksam. Keine Wartezeit beim Bow Tie. Der Reifenmech löst das Innenrad ab, wuchtet den Pneu vom Reifen, überprüft die Innenwand auf Schäden, pumpt das Rad, wässert es, besprüht es mit Seifenspray, prüft das Ventil. Der Schaden wird nicht eindeutig geklärt, allerdings ist das Ventil am Gummi und Metallteil aufgescheuert. Rad wieder aufsetzen. Das ganze kostet gerade mal 24 Dollar! Wovon leben die denn?
Nahe beim Reifenwechsler gibt es ein Hinweisschild: Desert Center. Silvia war überraschenderweise in Alaska und jetzt noch in der Wüste! Wir folgen dem Schild. Die Empfangsdame fordert uns eindringlich auf, entweder Wasser für den Wüstentrip im Womo zu holen oder am Kiosk zu kaufen.
Entgegen der Anweisung ziehen wir ohne Wasservorrat los und hoffen lebend aus der Wüste wieder heraus zu finden. Wo ist sie bloss, die Wüste? Sie beginnt gleich auf dem Laufsteg vor dem Center. Es gibt einen zweihundert Meter breiten Streifen Wüste, der von den Früchteanbauern noch nicht bewässert wird. Ein zwei Kilometer langer Holzsteg führt zwischen den Antilopensträuchern und über die Grasbüschel und winzigen Kakteen hin und zurück. Schmetterlinge und Kolibris flattern umher. Die Hinweise über Tiere und Sträucher im deutschsprachigen Führer sind interessant. Zwei Kilometer Wüste auf einem Holzsteg! Wir lachen noch den ganzen Abend über unsere Verwegenheit, die Wüste ohne Wasser durchwandert zu haben.
Emee und Leo Wenk, der Bruder von meinem ehemaligen Mitarbeiter Charlie in St. Gallen, sie nehmen uns in Harrison Hot Springs gastfreundlich auf. Sie freuen sich über das bisschen Regen, das wir mitgebracht haben. Seit einem Monat hat es hier nicht wirklich geregnet und hört gleich auch wieder auf. Der nahe Fraser River bringt aber viel Schmelz-Wasser.
Neuntausend Kilometer in sechs Wochen. Für Silvia und mich schliesst sich der Besuchs-Kreis in Vancouver. Mit Millionen von Eindrücken und Bildern in ihrem inneren Speicher und Daten für ein grosses, buntes Fotobuch im digitalen Speicher fliegt Silvia am 29. Juli in die Schweiz zurück. Wir sind alle drei gesund geblieben, glücklich und zufrieden, Silvia, das Womo und ich. Sooou schööön!
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